pafl: Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg
(ots)Abschluss der Forschungsarbeiten
Die Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg hat nach knapp vierjähriger Tätigkeit ihren Schlussbericht zu den Forschungsarbeiten über die Rolle Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Ergänzt wird der Schlussbericht mit einzelnen Studien zu Sonderthemen. Die Liechtensteinische Regierung hatte am 22. Mai 2001 aufgrund diverser Anregungen und in der Öffentlichkeit aufgeworfenen Fragen eine Unabhängige Historikerkommission bestellt und diese beauftragt, Fragen zur Rolle Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg vertieft abzuklären. Der Unabhängigen Historikerkommission unter dem Vorsitz von Peter Geiger gehörten Historiker aus Liechtenstein, Israel, Österreich und der Schweiz an. Ihr standen für die Forschungsarbeiten finanzielle Mittel von rund 3.5 Millionen Franken zur Verfügung.
"Noch nie wurde ein Kapitel in der Geschichte des Fürstentums Liechtenstein derart akribisch, ausführlich und schonungslos durchleuchtet wie die Zeit des Zweiten Weltkrieges in der vorliegenden Studie," erklärte der liechtensteinische Aussenminister, Ernst Walch, anlässlich der Pressekonferenz am 13. April 2005 in Vaduz, in der Regierung und Unabhängige Historikerkommission den Schlussbericht sowie die Schlussfolgerungen der Öffentlichkeit präsentierten. "Sowohl der Staat als auch die Wirtschaft hatten ein besonderes Interesse an einer lückenlosen Aufarbeitung dieses Zeitabschnittes. Die Aufarbeitung der Vergangenheit stärkt ein Land für die Bewältigung zukünftiger Probleme", so Walch weiter. Eine rund 40-seitige Zusammenfassung des Schlussberichtes sowie die Schlussfolgerungen der Regierung sind ab heute verfügbar und über das Internet-Portal www.liechtenstein.li digital abrufbar. Der gesamte, mehrere hundert Seiten umfassende Schlussbericht und die Einzelstudien der Unabhängigen Historikerkommission werden im Sommer 2005 in Buchform publiziert.
Peter Geiger, Präsident der Unabhängigen Historikerkommission, stellte mit Befriedigung fest, dass der freie und ungehinderte Zugang zu allen Archiven und Dokumenten eine Aufarbeitung in der vorliegenden Tiefe und Ausführlichkeit ermöglichte. "Uns standen alle Archive offen. Wir konnten ungestört und völlig unbeeinflusst arbeiten", bestätigte der Historiker.
Wichtigste Ergebnisse der Forschungsarbeiten
Die beiden in der NS-Zeit bestehenden liechtensteinischen Banken, die Liechtensteinische Landesbank (LLB) und die Bank in Liechtenstein (BIL), dienten dem Deutschen Reich und NS-Grössen nicht als Kapitalhort oder Devisendrehscheibe. Sie betrieben keinen Goldhandel mit dem Reich. Sie unterhielten in begrenztem Rahmen Geschäftsbeziehungen mit Partnern im Reichsgebiet. Sie verwalteten Vermögen von NS-Verfolgten.
Ein einziges nachrichtenloses Konto, das einem NS-Verfolgten gehörte, der 1938 nach New York geflohen und 1949 in Jerusalem gestorben war, wurde bei der Bank in Liechtenstein gefunden. Die Bank hat mittlerweile der ausfindig gemachten Erbin einen auf heute hochgerechneten Betrag des Kontos ausbezahlt. Bei sechs weiteren seit 1945 nachrichtenlosen Konten gibt es keine Hinweise auf NS- Verfolgung. Die Banken handelten korrekt.
Liechtensteinische Sitz- und Holdinggesellschaften hatten ihre Vermögenswerte in der Regel bei Schweizer Banken liegen. Ab 1938 wurden viele Gesellschaften gelöscht. Die Besitzer, oft Juden oder andere NS-Verfolgte, mussten ihr Vermögen im Deutschen Reich anmelden und abliefern. Es gibt Hinweise, dass in den Kriegsjahren gegründete Gesellschaften, welche dem Handel mit deutschen Partnern dienten, zur Verdeckung der Besitzverhältnisse, zur Finanzierung problematischer Geschäfte, zur Vermeidung alliierter Listensetzung oder zur Verschiebung von NS-Kapital dienen konnten; lückenlose Belege dafür gibt es nicht. Zahlreiche Gesellschaftsgründungen ab 1940 dienten der Umgehung der schweizerischen Kriegsgewinnsteuer. 1945 und danach wurde mit deutschen Vermögenswerten in Liechtenstein gleich wie in der Schweiz verfahren, nämlich Sperrung und Unterstellung unter das Washingtoner Abkommen. Die Schweizerische Verrechnungsstelle fand keine NS-Vermögensverschiebungen. Es gab in Liechtenstein keine Restitutionsforderungen oder -prozesse.
Zwangsweiser Vermögensentzug jüdischen Besitzes, Arisierung, sowie Zwangsarbeit fanden in Liechtenstein oder durch liechtensteinische Unternehmen nicht statt. Hingegen kaufte das Fürstenhaus ab 1938 im angeschlossenen Österreich und in der deutsch besetzten Tschechoslowakei einzelne Betriebe oder Beteiligungen aus jüdischem Besitz, so zur Arrondierung der im Besitz des Fürstenhauses stehenden Elbemühl-Papierfabrik. Auch wurden auf drei fürstlichen Landwirtschaftsbetrieben in Österreich vom Juli 1944 bis zum Kriegsende jüdische KZ-Häftlinge aus Ungarn, welche die SS aus dem Lager Strasshof bei Wien ausmietete, als Zwangsarbeitskräfte beschäftigt.
In liechtensteinischen Sammlungen sind keine geraubten Kunstwerte festgestellt worden. Es gibt auch keine Hinweise, dass über Liechtenstein Raubkunst verschoben wurde. Einzelne jüdische Flüchtlinge und Neubürger konnten Kunstwerte retten. Die seinerzeit in Wien lagernden Fürstlichen Sammlungen kauften in der Zeit von 1938 bis zum Kriegsende rund 270 Kunstobjekte, fast durchwegs Einrichtungsgegenstände. Darunter findet sich eine Reihe von Objekten mit problematischer Provenienz, da sie bei Institutionen oder Händlern erworben wurden, welche auch mit Raubgut handelten. Ein wertvoller Schreibtisch stammt nachweislich aus "arisiertem Besitz", doch hatte der Händler dem Fürsten eine falsche, unproblematische Herkunft angegeben.
Die Flüchtlingspolitik Liechtensteins wurde weitgehend durch jene der Schweiz bestimmt und mit dieser koordiniert. Zwischen 1933 und 1945 (die Flüchtlingswelle in den letzten Kriegstagen nicht eingerechnet) fanden etwa 400 Flüchtlinge, die grosse Mehrzahl Juden, Zuflucht in Liechtenstein, nämlich rund 250 durch kürzeren oder längeren Aufenthalt und etwa 150 durch behördliche Weiterleitung in die Schweiz. Zusätzlich erhielten zwischen 1933 und 1945 insgesamt 144 jüdische Personen das liechtensteinische Bürgerrecht, gegen hohe Gebühren. Insbesondere 1938/39 wurde aber auch eine unbekannte Anzahl von Flüchtlingen an der Grenze zurückgewiesen, teils auch aus Liechtenstein über die Grenze zurückgeschafft. In den letzten Wochen und Tagen des Krieges im April und Mai 1945 konnten rund 8000 Flüchtende durch Liechtenstein in die Schweiz gelangen. Am 3. Mai 1945 wurde eine übertretende russische Wehrmachttruppe mit knapp 500 Personen interniert.
Drei liechtensteinische Industriebetriebe, alle im Spätherbst 1941 gegründet, lieferten der deutschen Seite Rüstungsgüter oder kriegswichtige Güter: Die Press- und Stanzwerke AG produzierte 20 mm- Hülsen für die Oerlikon Bührle-Flabkanone, die Maschinenbau Hilti oHG lieferte Teile für Motoren und Fahrzeuge, die Präzisions- Apparatebau AG stellte Messinstrumente her.
Liechtenstein damals ganz anders als heute
In seiner Präsentation wies Geiger auf die besondere Situation Liechtensteins zur damaligen Zeit hin. "Die Fokussierungen auf Liechtenstein damals und heute sind sehr unterschiedlich. Aktuelle Wahrnehmungen zu Liechtenstein als allgemein reiches Land und als Finanzplatz gesehen werden oft zu einfach auf die Zeit von 1930 bis 1945 zurückprojiziert. Das Liechtenstein der Dreissiger- und Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts ist nicht mit dem heutigen Liechtenstein vergleichbar. Ausserdem spielte der spezielle Kontext, in welchem Liechtenstein an der Seite der Schweiz, mit der es auf das Engste vernetzt war, und in der Nachbarschaft Österreichs und seit 1938 des Dritten Reiches lebte, eine wesentliche Rolle."
Liechtenstein befand sich als Staat in einer besonderen Position, indem es zwar souverän, aber nicht unabhängig, sondern teilabhängig von der Schweiz war. Liechtenstein war bezüglich der Aussenwirtschaftspolitik aufgrund des Zollvertrags vollständig in das Regime der Schweiz eingebunden. An der liechtensteinischen Grenze zu Österreich kontrollierten schweizerische Grenzorgane die Grenze. Liechtenstein lag nach dem "Anschluss" Österreichs an der Grenze des Dritten Reiches und war ständig bedroht. Auch in Liechtenstein hielten sich Verfolgte auf und Liechtenstein musste sich dieser Situation stellen. Ein politischer Faktor lag in der Kleinheit des Landes, es hatte kein politisches Gewicht. Die Frage musste sich daher auch danach richten, wie die Bewohner und Bewohnerinnen und wie die Behörden in dieser besonderen Situation handelten.
Schlussfolgerungen der Regierung
Die Regierung hat die Ergebnisse der Untersuchungen der Unabhängigen Historikerkommis-sion zur Kenntnis genommen und anschliessend ihre Schlussfolgerungen daraus gezogen. "Liechtenstein ist sich seiner Verantwortung für dieses Kapitel in seiner Geschichte bewusst. Wir blicken aber nicht nur in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft und wollen alles in unserer Macht stehende tun, damit sich die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg und insbesondere der Holocaust in keiner Weise wiederholen können. Dazu ist es unablässig, die Bevölkerung, insbesondere unsere Jugend zu informieren über das, was geschehen ist und sie gegenüber Rassismus und Antisemitismus zu sensibilisieren," fasst Regierungschef Otmar Hasler die politische Wertung der Regierung zusammen. In den Schlussfolgerungen weist die Regierung daher auch auf die vielfältigen Massnahmen hin, die bereits in den vergangenen Jahren eingeleitet und getroffen worden sind, um Rassismus und Antisemitismus wirkungsvoll zu bekämpfen. Die Regierung hält es für zielführend in Zukunft mit neuen Massnahmen geeignete Projekte mit langanhaltender Wirkung zu verfolgen. Die verschiedenen Projekte sollen vor allem einer fortgesetzten öffentlichen Bewusstseinsbildung dienen.
Befassung des Landtages
Die Regierung hat die Ergebnisse der Untersuchungen mit grossem Respekt und im Geiste der gemeinsamen Verantwortung entgegengenommen, wie sie dies gegenüber dem gesamten Untersuchungsablauf und dem zugrunde liegenden Anliegen getan hat. Die Regierung hat dem Landtag (Liechtensteinisches Parlament) die Berichte zugeleitet, damit sich dieser als Volksvertretung baldmöglichst mit den Ergebnissen der Untersuchungen befassen kann.
Sämtliche Dokumente sowie detaillierte Informationen zur Unabhängigen Historikerkommission finden Sie im Internet unter www.liechtenstein.li .
Kontakt Norbert Hemmerle Regierungssekretär Tel. +423 236 60 06
Dr. Peter Geiger Präsident, Unabhängige Historikerkommission Tel. +423 265 50 50