Sucht Schweiz / Addiction Suisse / Dipendenze Svizzera
Das Schweizer Suchtpanorama 2024
Mehr gefährdete Jugendliche und zu wenig Schutz - Die Gesellschaft muss jetzt handeln!
Ein Dokument
Lausanne (ots)
Die psychische Gesundheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat sich insgesamt verschlechtert, nicht erst seit der Corona-Pandemie. Mädchen resp. junge Frauen sind besonders davon betroffen. Gleichzeitig hat die Prävalenz des Suchtmittelkonsums unter den Jugendlichen teilweise zugenommen, teilweise bleibt sie auf einem zu hohen Niveau.
Der Anteil vulnerabler Jugendlicher ist grösser geworden und diese haben ein höheres Risiko, zu Suchtmitteln wie Nikotinprodukten zu greifen oder in die sozialen Medien zu flüchten. Sucht Schweiz stellt fest, dass der Schutz der Jugend so nicht genügt. Die Politik muss einen Gang hochschalten: Die Prävention muss verstärkt und verbessert sowie die Jugend gestärkt werden.
Der Mehrheit der Jugendlichen in der Schweiz geht es recht gut, aber der Anteil von Mädchen und Jungen mit schlechtem Wohlbefinden hat sich vergrössert. Besonders betroffen sind Mädchen im Alter von 13 und 15 Jahren. Dies ist eines der Resultate der nationalen Studie "Health Behaviour in School-aged-Children" (HBSC) von 2022 bei 11- bis 15-Jährigen.
Auch die neuen Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022 zeigen ein ähnliches Bild: Der Anteil von jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren, die angeben, mittel oder stark psychisch belastet zu sein, ist seit 2017 von 3,9 % auf 8,7 % gestiegen. Der Anteil derer, die während der letzten 12 Monate wegen eines psychischen Problems in Behandlung waren, stieg von 7 % auf 14 %.
Die Pandemie hat sicher zu dieser Verschlechterung beigetragen, aber Studien zeigen, dass die Tendenz bereits vorher begonnen hat.
Substanzkonsum unter Jugendlichen bleibt hoch
Nach den neuen Daten der HBSC-Studie von 2022 bleibt der Substanzkonsum unter Jugendlichen hoch oder verstärkt sich gar noch in einzelnen Bereichen. So ging der Zigarettenkonsum nicht zurück, während gleichzeitig eine neue Gruppe von Jugendlichen entstand, die E-Zigaretten und Snus gebrauchen. Mädchen sind hier stärker betroffen als Jungen. Besorgniserregend ist der Anstieg des Zigaretten- und Alkoholkonsums bei den 13-Jährigen.
Die Daten zu den Online-Aktivitäten der Jugendlichen zeigen, dass im Jahr 2022 4 % der Jungen und mehr als doppelt so viele Mädchen (10 %) im Alter von 15 Jahren eine problematische Nutzung der sozialen Netzwerke hatten, was bei den Mädchen mehr als eine Verdoppelung darstellt.
Gesundheit der Jugendlichen und Substanzkonsum
Der Konsum psychoaktiver Substanzen bei Jugendlichen wird von individuellen und Umweltfaktoren beeinflusst, die auch miteinander verbunden sind. Risikofaktoren wie Stress, schlechte Gesundheit oder starkes Produktmarketing und leichte Verfügbarkeit von psychoaktiven Substanzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Konsums. Schutzfaktoren wie gute psychische Verfassung, Unterstützung und Vertrauen durch die Eltern vermindern sie. In der HBSC-Studie steht ein schlechter Gesundheitszustand und ein schlechtes psychisches Wohlbefinden, sowie stark empfundener Stress in Zusammenhang mit einem häufigeren Alkohol-, Zigaretten- und E-Zigarettenkonsum. Dasselbe lässt sich auch für Medikamente "um sich zu berauschen" feststellen. Und schliesslich nutzte die Hälfte der 15-Jährigen im Jahr 2022 die sozialen Netzwerke oft, um vor negativen Gefühlen zu flüchten (im Jahr 2018 noch etwa ein Drittel).
Jetzt die Prävention verstärken!
Erfolgreiche Prävention setzt einerseits bei der Regulierung und den Umweltfaktoren an und stärkt andererseits die Individuen, um sich gesund zu verhalten. Es braucht beides, um den Substanzkonsum und problematische Verhaltensweisen bei Jugendlichen zu verhindern oder zu vermindern. Doch Faktoren wie Welt- und Umweltlage, der Druck der Sozialen Medien und die Schule sind für viele Jugendliche belastender geworden. Nun genügen die heutigen Präventionsmassnahmen offensichtlich nicht mehr. Die Situation beim Substanzkonsum und gewissen problematischen Verhalten verbessert sich nicht und bleibt beunruhigend.
Deshalb muss nun rasch gehandelt werden, und zwar auf allen Ebenen. Die Stärkung der psychischen Gesundheit kann den Substanzkonsum positiv beeinflussen, aber auch das Umgekehrte ist der Fall. Sucht Schweiz fordert als vordringlichste Massnahmen:
Verkaufsverbot durchsetzen: In knapp 30 % der Fälle wird Jugendlichen in Läden und Restaurants illegal Alkohol verkauft, im Internet sind die Verkäufe noch häufiger. Die Durchsetzung muss nun endlich ernst genommen werden.
Nachfrage nach Substanzen senken - Werbung einschränken, Preise erhöhen: Studien zeigen, dass ein Jugendschutz ohne Senkung der Nachfrage nicht möglich ist. Hierzu muss auch die Attraktivität von suchtgenerierenden Substanzen (und Verhalten) gesenkt werden, zum Beispiel mit einer stärkeren Einschränkung der Werbung, welche die Jugendlichen erreicht. Der Konsum solcher Substanzen darf nicht weiter die Norm sein. Nicht umsonst hat gerade die letzte Jugendsession die Einführung von neutralen Einheitspackungen für alle Nikotin- und Alkoholprodukte sowie Betäubungsmittel gefordert. Zudem sollten auch Mindestpreise eingeführt werden, denn Jugendliche sind sehr preissensibel.
Wissenschaftsbasierte Prävention stärken: Die präventive Wirkung von Aufklärung in der Schule zu Substanzen und suchtgenerierenden Verhalten ist bisher kaum nachweisbar und kann je nach Thema und Alter gar kontraproduktiv sein. Es gilt nun, stärker in Präventionsprogramme zu investieren, deren Effektivität nachgewiesen wurde, und die Finanzierung der Prävention zu fördern.
Früherkennung und Frühintervention (F+F) stärken: Die Daten zeigen eine Zunahme der Anzahl der Jugendlichen, denen es nicht gut geht. Es braucht deshalb mehr Ressourcen für die Früherkennung und Frühintervention in Schule oder Lehre, in der Sozialarbeit und im Gesundheitswesen. Die langen Wartezeiten für psychologische Intervention können gravierende Auswirkungen haben.
Stärkung der Erziehungsarbeit und der Ressourcen der Jugendlichen: Erfahrungen und Hobbys sowie soziale Kontakte im realen Leben stärken junge Menschen. Bei der Bewältigung von Stress hilft beispielsweise das Gefühl der Selbstwirksamkeit und das Wissen, dass Angehörige für einen da sind. Eltern haben eine wichtige Rolle bei der Begleitung und Unterstützung der Jugendlichen, aber dazu brauchen sie selber auch mehr Unterstützung.
Das ganze Dossier in PDF findet sich im Anhang
Das Wichtigste in Kürze (Gesamtbevölkerung):
Alkohol
Seit 1992 ist der Anteil der Personen, die täglich Alkohol trinken, um gut die Hälfte zurückgegangen. Dafür konsumieren Männer und Frauen bei bestimmten Gelegenheiten mehr: 11% der Frauen und 19% der Männer betrinken sich mindestens einmal im Monat.
Obwohl der Alkohol neben Tabak aufgrund der hohen Verbreitung am meisten Schäden verursacht und die meisten Suchtbehandlungen erfordert, ist kein politischer Gestaltungswille auszumachen. Gewisse Kantone deregulieren gar.
Nötig wären präventive Massnahmen, die den heutigen Trinkmustern gerecht werden, z.B. eine zeitliche Verkaufseinschränkung während der Nacht, Mindestpreise gegen Billigalkohol oder ein Alkoholausschank-Verbot an Betrunkene.
Tabak- und Nikotinprodukte
Bei den Jugendlichen hat der Konsum von Puff-Bars eine zusätzliche Gruppe von Nikotinkonsumierenden geschaffen - der Zigarettenkonsum geht hier nicht zurück. Bei den Erwachsenen ist der leichte Rückgang des Zigarettenkonsums durch andere Nikotinprodukte kompensiert worden.
Die im Vergleich zum Ausland noch fehlenden politischen Massnahmen führen dazu, dass der Nikotinkonsum bei den Erwachsenen gleichbleibt und bei den Jugendlichen ansteigt. Es ist entscheidend, dass die vom Volk angenommene Initiative "Kinder ohne Tabak" nun vollständig und rasch umgesetzt wird.
Doch die Tabakindustrie hat die Parlamentsmehrheit in der Hand und drängt auf die Verwässerung bei der Umsetzung. Der illegitime Einfluss der Tabakindustrie auf die Gesundheitspolitik muss endlich gestoppt werden.
Cannabis und andere illegale Drogen
Die erhöhte Sichtbarkeit des Drogenkonsums im öffentlichen Raum und der zunehmende Konsum von Kokainbase (Crack oder Freebase) in bereits marginalisierten Bevölkerungsgruppen prägen die Aktualität. Die Verfügbarkeit und der Konsum von Kokain sowie der entsprechenden Probleme nehmen in der Schweiz und in Europa zu. Diese Situation erfordert ein kollektives Vorgehen, um über die Anpassung der Umsetzung der Vier-Säulen-Politik nachzudenken.
Auch der Themenbereich Cannabis ist in Bewegung. Die aktuellen Daten zeigen, dass der Cannabis-Konsum relativ stabil ist. Gleichzeitig festigt sich politisch ein Trend zu einer neuen Regulierung. In der Schweiz wird ein neues Cannabisgesetz entworfen und Pilotversuche für die legale Cannabisabgabe rollen an.
Psychoaktive Medikamente
Der gefährliche Medikamenten-Mischkonsum sowie Medikamentenmissbrauch sind unter Jugendlichen verbreitet, 12 % der 15-Jährigen haben damit schon Erfahrungen gemacht. Resultate von vertieften Untersuchungen zeigen, dass wirksame Prävention gestärkt werden muss.
Der Verkauf von potenziell abhängig machenden Schlaf- und Beruhigungsmitteln ist auf hohem Niveau stabil. Die Pandemie hat aber zu Belastungen geführt, die auch von jüngeren Menschen mit solchen Medikamenten angegangen werden.
Die Steigerung der Verkäufe von starken opioidhaltigen Schmerzmitteln war erheblich, es scheint aber, dass nun ein leichter Rückgang begonnen hat.
Glücks- und Geldspiel
Glücks- und Geldspiele werden häufig von jüngeren Menschen gespielt, mehrheitlich von Männern. Sie bergen besondere Risiken und manche verlieren die Kontrolle über ihr Spiel und die Ausgaben. Im Schnitt beträgt die Verschuldung von betroffenen Personen in der Schuldenberatung rund 88'000 Fr.
Der Anteil der online Spielenden mit problematischem Glücks- und Geldspielverhalten scheint sich innert drei Jahren verdoppelt zu haben. Und fast eine halbe Million Menschen in der Schweiz hatten im Laufe ihres Lebens Probleme mit dem Glücks- und Geldspiel. Betroffene sollten rascher erkannt und unterstützt werden.
Online-Aktivitäten
Nebst den positiven Seiten bergen Videospiele und soziale Netzwerke auch Risiken. Optisch sind sie kaum noch voneinander zu unterscheiden und sie ähneln Glücks- und Geldspielen, von denen sie einige Mechanismen übernehmen.
Dies ist kein Zufall. Diese Mechanismen verleiten dazu, viel Zeit online zu verbringen und Geld auszugeben, mit dem Risiko, die Kontrolle zu verlieren. Neue Daten weisen darauf hin, dass etwa 3% der 15-Jährigen, die Videospiele nutzen, dies auf problematische Weise tun. Bei Social Media sind es gut 7% der 15-Jährigen.
Die Bevölkerung und besonders Minderjährige müssen sofort und wirksam vor Mechanismen geschützt werden, die darauf abzielen sie zu beeinflussen.
Pressekontakt:
Markus Meury
Mediensprecher
mmeury@suchtschweiz.ch
021 321 29 63
Monique Portner-Helfer
Mediensprecherin
mportner-helfer@suchtschweiz.ch
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