Schweizerischer Nationalfonds / Fonds national suisse
Diskriminiert durch die Gemeindeversammlung
Direkt- und repräsentativ-demokratische Einbürgerung im Vergleich
Bern (ots)
Wenn Gemeindeversammlungen über Einbürgerungsgesuche entscheiden, ist die Ablehnungsquote deutlich höher, als wenn Gemeinderäte oder Gemeindeparlamente zuständig sind. Besonders benachteiligt werden Ex-Jugoslawen und Türken, wie ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt zeigt.
Welche Einwandererinnen und Einwanderer werden von den Schweizer Gemeinden eingebürgert und welche nicht? Entscheiden Stimmbürgerinnen und Stimmbürger anders als gewählte Politiker? Um diese Fragen zu beantworten, haben die Politikwissenschaftler Jens Hainmueller (Massachusetts Institute of Technology) und Dominik Hangartner (London School of Economics und Universität Zürich) die zwischen 1990 und 2010 gefällten Einbürgerungsentscheide von über 1400 Schweizer Gemeinden ausgewertet.
1990 setzten 80 Prozent der Gemeinden bei der Einbürgerung auf die direkte Demokratie: Die Stimmbürger stimmten an der Urne oder an der Gemeindeversammlung über die Gesuche ab. 2003 erklärte das Bundesgericht ablehnende Entscheide an der Urne für unrechtmässig. Der Hauptgrund: Jeder abgelehnte Bewerber hat ein Rekursrecht - und bei Urnenabstimmungen gibt es, anders als bei der Gemeindeversammlung, keine Ablehnungsbegründung, gegen die sich der Rekurs richten könnte. In der Folge wechselten viele Gemeinden vom direkt-demokratischen zum repräsentativ-demokratischen System und übertrugen den Einbürgerungsentscheid dem Gemeinderat, dem Parlament oder einer spezialisierten Kommission. Noch rund 30 Prozent der Gemeinden bürgern per Gemeindeversammlung ein.
Verdoppelte Einbürgerungsrate Von den untersuchten 1400 Gemeinden nahmen rund 600 einen Systemwechsel vor. Die Folgen waren frappant: Im ersten Jahr nach dem Wechsel stieg die Einbürgerungsrate sprunghaft an - im Schnitt um 50 Prozent, im zweiten Jahr und in der folgenden Zeit um weitere 50 Prozent. Die Rate verdoppelte sich also, in absoluten Zahlen von zwei auf vier Prozent der in der Schweiz lebenden Ausländer, welche die formalen Kriterien (unter anderem die Aufenthaltsdauer) für eine Einbürgerung erfüllen. "Ohne den Wechsel wären zwischen 2005 und 2010 rund 12000 Immigranten weniger eingebürgert worden", sagt Dominik Hangartner. Weil vom Einbürgerungsantrag bis zum Entscheid Jahre verstreichen, ist die eruierte Verdoppelung nicht auf eine höhere Anzahl Anträge zurückzuführen.
Besonders stark wirkte sich der Systemwechsel auf die Einbürgerungschancen von Einwanderern aus der Türkei und aus Ex-Jugoslawien aus. Während ihre Einbürgerungsrate im ersten Jahr um 68 respektive um 75 Prozent stieg, erhöhte sich dieser Wert für Italiener und Deutsche nur um 6 beziehungsweise 34 Prozent. Das deutet darauf hin, dass Türken und Ex-Jugoslawen bei Entscheiden an Urne oder Gemeindeversammlung systematisch benachteiligt sind.
Diskriminierte Türken und Ex-Jugoslawen Diese Diskriminierung wiesen Hangartner und Hainmueller in einer weiteren Untersuchung eindeutig nach. Die Forscher untersuchten die Einbürgerungsentscheide, die 44 Gemeinden zwischen 1970 und 2003 an der Urne fällten. Das Resultat: Faktoren wie Integrationsstatus, Sprachkenntnisse oder Aufenthaltsdauer spielten kaum eine Rolle. Bei vergleichbaren Voraussetzungen erhielten jeder dritte Türke und Ex-Jugoslawe an der Urne einen negativen Entscheid, hingegen nur jeder dreissigste Italiener und Deutsche. Am stärksten war die Diskriminierung in Gemeinden, in denen der Wähleranteil der SVP besonders gross war. In diesen Gemeinden stieg nach dem 2003 erfolgten Systemwechsel auch die Einbürgerungsrate am stärksten.
Weshalb lehnen Gemeinderäte und Parlamente weniger Gesuche ab als die Stimmbürger? "An der politischen Einstellung liegt es nicht, denn die Gemeinderäte sind kaum linker zusammengesetzt als die jeweilige Wohnbevölkerung", sagt Jens Hainmueller. Die Forscher befragten darum über 200 Gemeindeschreiber. Viele gehen davon aus, dass die gewählten Politiker eher eine stichhaltige Begründung haben müssen, um ein Gesuch abzulehnen. Wenn der Entscheid nämlich angefochten wird, droht der erfolgreiche Rekurs auf den gewählten Politiker zurückfallen. Dem anonymen Stimmbürger wäre dies egal.
Auf repräsentativ-demokratische Verfahren umstellen "Direkt-demokratische Verfahren stellen für Immigranten, die sich einbürgern lassen wollen, eine viel höhere Hürde dar, als wenn gewählte Politiker entscheiden", bilanziert Hangartner. Er empfiehlt jenem Drittel der Schweizer Gemeinden, die an der Gemeindeversammlung einbürgern, ihr Verfahren zu ändern: "Um das Risiko diskriminierender Ablehnungen zu minimieren, sollten Einbürgerungen von Gemeinderäten, Parlamenten oder spezialisierten Kommissionen vorgenommen werden."
Die beiden Studien sind auf www.citizenship.ch zu finden; ein zehnminütiger Film fasst das Wichtigste zusammen.
Der Text dieser Medienmitteilung steht auf der Website des Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung: www.snf.ch > Medien > Medienmitteilungen.
Kontakt:
Dr. Dominik Hangartner
Department of Methodology
London School of Economics
Columbia House
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Tel.: +44 20 7955 6982
E-Mail: d.hangartner@lse.ac.uk