Stunde der Wahrheit naht, Börsenkommentar "Marktplatz", von Christopher Kalbhenn
Frankfurt (ots)
Relativ zur Hektik an den Finanzmärkten und zum Tempo, mit dem Dividendentitel in den zurückliegenden Wochen nach unten gerauscht sind, machen die Aktienanalysten derzeit den Eindruck eines eher ruhig veranlagten Menschenschlages. Um gerade einmal 6% sind die Prognosen für den aggregierten Gewinn je Aktie der Dax-Unternehmen im nächsten Jahr seit Anfang August gesunken, während der Index 27,5% eingebüßt hat. Mit einer 723 Indexpunkten entsprechenden Konsensprognose bedeutet das beim Schluss vom Freitag von 5197 Zählern ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 7,2.
Daraus zu schließen, dass der Aktienmarkt nun so extrem günstig bewertet ist, dass schleunigst zum Einstieg zu blasen ist, wäre jedoch verfrüht. Tatsächlich haben die Analysten erst begonnen, ihre Schätzungen der sich verändernden Lage anzupassen. Sie können nicht - und sollen auch nicht - jeder Bewegung des Marktes überstürzt hinterhereilen. Allerdings müssen sie auch darauf achten, ihre Schätzungen nicht zu spät anzupassen, was zu einer Entwertung der Prognosen durch die Realität führen würde.
Bei Investoren melden sich bereits Kritiker zu Wort. "Momentan eskomptieren die Aktienmärkte mit rund 50%iger Wahrscheinlichkeit eine Rezession in der westlichen Welt sowie ein Nullwachstum für 2012", so die ING Investment Management. "BeiBundesanleihenund US-Treasuries mit Renditen von unter 2% lassen sich Anleiheinvestoren ihre Rezessionsängste nicht ausreden. Am anderen Ende des Spektrums lassen sich die Aktienanalysten nervtötend lange Zeit, die Marktsignale wahrzunehmen. Zwar passen sie ihre Prognosen nach unten an, erwarten aber dennoch für 2012 einen Anstieg der Unternehmensgewinne weltweit um über 10%." Sie erwarteten ein anhaltend kräftiges Wirtschaftswachstum, womit sie jedoch falsch lägen.
Auch andere Warnsignale deuten darauf hin, dass die Gewinnprognosen immer dringenderen Anpassungsbedarf haben. In den USA liegt der Einkaufsmanagerindex des Institute for Supply Management für den verarbeitenden Sektor nur noch knapp über der Schwelle von 50 Punkten. Ein Wert unterhalb der Schwelle signalisiert rückläufige Aktivität. In der abgelaufenen Woche ist nun der Einkaufsmanagerindex für den Euroraum unter 50 Zähler gesunken. Und der ebenfalls bekannt gegebene Index für China lag zum dritten Mal in Folge unter 50 Punkten. Verbraucher- und Anlegerstimmungsindikatoren sowie die an Tempo gewinnende Abwärtsrevision bei den Wachstumsprognosen zeigen ebenfalls an, dass die Gewinnschätzungen korrekturbedürftig sind.
M.M. Warburg nimmt die Analysten jedoch in Schutz. Es überrasche nicht, dass sich Unternehmensanalysten schwer täten, mit der aktuellen Entwicklung am Aktienmarkt Schritt zu halten. Vor dem Hintergrund der hervorragenden berichteten Gewinne der letzten Quartale sowie der vollen Auftragsbücher und der durchweg positiven Einschätzung der Unternehmen für die nächsten Monate könnten Analysten mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarium gar nicht anders, als bei fallenden Kursen eher noch positiver in die Zukunft zu schauen. Die Diskrepanz zum Eindruck, den Stimmungsindikatoren geben, erklärt das Bankhaus folgendermaßen: Es mache einen Unterschied, ob ein Unternehmen im direkten Kontakt mit Investoren und Analysten stehe und dort seine Lageeinschätzung mitteile oder ob man aus der anonymen Masse heraus eine allgemeine Einschätzung abgebe, die keine direkten Konsequenzen für die Wahrnehmung des Unternehmens am Markt mit sich bringe. Es spreche vieles dafür, dass aus einer anonymen Position heraus eine aussagekräftigere Einschätzung erfolge als im direkten Kontakt mit Marktteilnehmern.
Was die Gewinnprognosen und damit die Bewertungsbeurteilung betrifft, rückt nun allerdings die Stunde der Wahrheit näher. Anfang Oktober beginnt in den USA die Berichtssaison zum dritten Quartal, in der die Unternehmen üblicherweise auch zu den Aussichten des nächsten Jahres Stellung nehmen. Dass damit mehr Licht in die Marktlage hineinkommt, wird aber nicht unbedingt angenehm sein. Nach Einschätzung der WestLB ist der Markt viel zu zuversichtlich, vor allem für die zyklischen Unternehmen. Für Letztere erwartet sie eine Ergebnisrezession und liegt damit zwischen 15% bis 20% unter den Konsensschätzungen. Der Markt müsse sich vor diesem Hintergrund an den Gedanken einer Welle von Gewinnwarnungen vor der Quartalsberichtssaison gewöhnen.
(Börsen-Zeitung, 24.9.2011)
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