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Schweizer Presserat - Conseil suisse de la presse - Consiglio svizzero della stampa

Media Service: Schweizer Presserat: Stellungnahme 46/2009 Parteien: Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer c. «NZZ am Sonntag» (Beschwerde abgewiesen)

Interlaken (ots)

Einseitige und unvollständige Berichterstattung
/ Anhörung bei schweren Vorwürfen
I. Sachverhalt
A. Am 1. Februar 2009 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» einen 
Artikel von Christine Brand mit dem Titel «Glaubenskrieg». Dessen 
Lead lautet: «Die Grippe grassiert - und nur 20 Prozent des Personals
in Spitälern und Pflegeheimen sind dagegen geimpft. Liessen sich mehr
Angestellte impfen, würden zahlreiche Ansteckungen und sogar 
Todesfälle verhindert, sagen Mediziner. Die Grippeimpfung sei reine 
Geldmacherei der Pharmaindustrie und schade mehr, als sie nütze, 
meinen die Kritiker. Ein Glaubenskrieg ist entbrannt.» Im Lauftext 
werden nach einleitenden Ausführungen zur aktuellen Grippesituation 
Befürworter und Kritiker der Grippeimpfung zitiert. Dem Bericht 
beigestellt ist ein Interview mit dem Berner Immunologen Beda 
Stadler. Dieser führt darin aus: «Es gibt eine goldene Regel: Wer mit
Leuten zu tun hat, die von ihm abhängig sind - seien das Kinder, 
Senioren, Patienten oder Gefangene -, der handelt unprofessionell, 
wenn er sich nicht gegen Grippe impfen lässt. Denn diese Leute können
dem Personal nicht ausweichen, und es gibt kein verfassungsmässiges 
Grundrecht, jemanden anzustecken. Das Personal, das sich nicht impfen
lässt, begeht damit einen potentiellen Mord (...) Zumindest nehmen 
diese Leute in Kauf, dass sie jemand töten. Spaziert eine ungeimpfte 
Pflegerin durch den Gang eines Altersheims oder arbeitet sie in einem
Spital mit Patienten, verhält sie sich ebenso unprofessionell wie ein
Pilot, der betrunken Airbus fliegt - und ebenso unverantwortlich wie 
ein Raser, der das Leben anderer riskiert. Und zwar geht es hier um 
das Leben kleiner Kinder und netter alter Leute. Wir haben dermassen 
charakterschwache Leute in unserer Gesellschaft - sie sollten, ebenso
wie derjenige, der gegen die Verkehrsregeln verstösst, zur 
Rechenschaft gezogen werden.»
B. Am 16. Februar 2009 gelangte der Schweizer Berufsverband der 
Pflegefachfrauen und       -männer (SBK) mit einer Beschwerde gegen 
den obengenannten Bericht an den Presserat. Im Artikel und im 
Interview würden von den Befürwortern der Grippeimpfung gravierende 
Vorwürfe gegen das nicht geimpfte Pflegepersonal erhoben, ohne dazu 
die Stimme von Berufsangehörigen oder den SBK als grössten 
Berufsverband mit 26'000 Mitgliedern zu Wort kommen zu lassen. Damit 
habe die «NZZ am Sonntag» die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der 
Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung 
bei schweren Vorwürfen) verletzt. Zudem rügt der Beschwerde führende 
Verband, die Zeitung habe einseitig und unvollständig berichtet.
C. Am 4. März 2009 wies Chefredaktor Felix E. Müller die 
Beschwerde namens der Redaktion der «NZZ am Sonntag» als unbegründet 
zurück. Hauptthema des Artikels sei das Impfen. Die Impfquote des 
medizinischen Personals sei dabei nur ein Aspekt unter vielen 
anderen. Da es nicht praktikabel gewesen wäre, mit sämtlichem 
Verbänden Kontakt aufzunehmen, welche das Personal in Spitälern und 
Pflegeheimen vertreten, habe die Autorin stellvertretend für alle 
impfkritischen Angestellten die Impfkritikerin Anita Petek sowie die 
Stiftung für Konsumentenschutz zitiert, die ebenfalls die 
impfkritischen Punkte betone. Im Artikel sei gegen keine Person 
schwere Vorwürfe erhoben worden. Deshalb habe kein Anlass bestanden, 
jemanden anzuhören. Die «NZZ am Sonntag» habe nicht einseitig 
berichtet und unvollständig informiert, sondern vielmehr 
Impfbefürworter und Impfgegner ausgewogen zu Wort kommen lassen.
D. Am 10. März 2009 teilte der Presserat den Parteien mit, die 
Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem
Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther 
Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
K. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 
11. September 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Nach ständiger Praxis des Presserates kann aus der «Erklärung» 
keine Verpflichtung zu «objektiver» Berichterstattung abgeleitet 
werden. Vielmehr ist es berufsethisch auch zulässig, einseitige, 
fragmentarische Standpunkte zu Wort kommen zu lassen (vgl. zuletzt 
die Stellungnahme 10/2009 mit weiteren Hinweisen). Hingegen sind 
Journalistinnen und Journalisten gemäss der Richtlinie 3.8 zur 
«Erklärung» verpflichtet, Betroffene vor der Publikation schwerer 
Vorwürfe zu befragen und deren Stellungnahme im gleichen 
Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Die Anhörung ist auch dann
zwingend, wenn die Vorwürfe gegen Personen erhoben werden, die nicht 
im Zentrum eines Artikels stehen (Stellungnahme 7/2004).
2. Die vom Beschwerdeführer als «schwer» im Sinne der Richtlinie 
3.8 bewerteten Vorwürfe richten sich nicht gegen individuell 
bezeichnete oder zumindest bestimmbare Personen. Wie die «NZZ am 
Sonntag» zu Recht einwendet, wäre es nicht praktikabel, sämtliche 
davon potentiell betroffenen Personen anzuhören. Ebenso wenig kann 
nach Auffassung des Presserats der im Artikel nicht namentlich 
erwähnte SBK für sich beanspruchen, er hätte an Stelle der Gesamtheit
des impfkritischen Teils des medizinischen Personals zwingend 
angehört werden müssen. Der Presserat ist bereits in der 
Stellungnahme 50/2002 zum Schluss gelangt, es sei zulässig, in einem 
als solchen erkennbaren Pamphlet verletzende pauschale Vorwürfe gegen
die Gesamtheit der Gerichtsmagistraten zu veröffentlichen. Erhebt 
eine Publikation hingegen konkrete Vorwürfe gegen einen bestimmten 
individualisierbaren Richter, ist dieser vorgängig anzuhören. Die 
Ausführungen von Beda Stadler im Interview vom 1. Februar 2009 sind 
für die Leserinnen und Leser ohne Weiteres als Polemik und 
Provokation erkennbar. Entsprechend ist die Leserschaft durchaus in 
der Lage, die Informationen und kommentierenden Wertungen 
einzuordnen, zumal im Bericht der «NZZ am Sonntag» neben 
Impfbefürwortern auch impfkritische Stimmen zu Wort kommen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Mit der Veröffentlichung des Artikels «Glaubenskrieg» vom 1. 
Februar 2009 hat die «NZZ am Sonntag» die Ziffer 3 der «Erklärung der
Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung 
bei schweren Vorwürfen; Unterschlagung von wichtigen Informationen) 
nicht verletzt.

Kontakt:

SCHWEIZER PRESSERAT
CONSEIL SUISSE DE LA PRESSE
CONSIGLIO SVIZZERO DELLA STAMPA
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Martin Künzi, Dr. iur., Fürsprecher
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