Der gemeinsame Präsident - Leitartikel von Hajo Schumacher
Berlin (ots)
Seine Wahl gilt als sicher: Am Sonntag um 12 Uhr werden im Berliner Reichstagsgebäude 1240 Wahlmänner und -frauen Joachim Gauck zum neuen Bundespräsidenten küren. Auf den einstigen Bürgerrechtler kommen gewaltige Anforderungen zu, und natürlich wird auch er den klassischsten aller Präsidentensätze beantworten müssen: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst." Die ins Absurde spielende Aufgabenliste: Das neue Staatsoberhaupt soll die innere Einheit vollziehen und das Miteinander stärken, die Finanzmärkte zähmen, den Islam irgendwie okay finden, aber nicht zu doll, er muss Würde und Visionen herbeizaubern, bescheidenes Vorbild sein und seinen Lohn dem Tierheim spenden. Selbst Superman würde scheitern an all diesen Erwartungen, die am Ende weniger über Gauck und das Amt sagen als vielmehr über das Volk, das sie formuliert. Die Psychologie spricht von Projektionen, wenn jemand die eigenen Versäumnisse anderen umso bissiger abverlangt. Joachim Gauck bietet eine gigantische nationale Projektionsfläche. Alle Ängste, Sorgen, Hoffnungen bündeln sich zu einem Forderungs-Laser. Der von Eitelkeit nicht freie Präsident wäre dementsprechend klug, wenn er diesen Strahl vom Start weg einfach nur spiegeln und einem zutiefst verunsicherten Volk zurückwerfen würde. Weil ein Präsident und seine Prioritäten nie edler sein können als das Volk, wäre es an der Zeit, Wutbürger, Allmachtsbosse, Parteifunktionäre, Meinungsschrauber und Laubenpieper zu fragen, was eigentlich jeder Einzelne für den Präsidenten tun kann, speziell für Gauck und ganz allgemein fürs Amt. Ruhe und Würde etwa, die allenthalben vom Staatsoberhaupt eingefordert werden, können nur zu einem Teil vom Amtsinhaber selbst kommen. Vielmehr ist die Bereitschaft der Untertanen gefragt, Ruhe und Würde auch zu gewähren. Entspannen und zuhören wäre schon mal ein Anfang, anstatt ab Montag früh das sofortige Erfüllen aller Wertewünsche einzufordern. Es ist die grassierende Dienstleistungserwartung, die das höchste Amt im Staat so unattraktiv macht. Mit einem Volk, das aus dem Fernsehsessel heraus durch die Werte-Show zappen will, ist kein Staat zu machen. Die politischen Skandale der vergangenen zwölf Monate haben eben nicht nur den Zustand der Politik illustriert, sondern auch eine realitätsferne Service-Mentalität der Deutschen, die ihren Ausdruck oft in politischer Passivität findet. Wer aber mag einem Land vorstehen, wo mittelschwere Verfehlungen mit blankem Hass und Weltuntergangs-Tremolo geahndet werden, wo das Ziehen von immer neuen tieferen Gräben allemal mehr Spaß bereitet als das Entdecken von Gemeinsamkeiten, wo die Bürger viel zu viel über Korinthen und viel zu wenig über den Wert der Demokratie reden, um am Ende das Mitmachen zu verweigern? Welches Thema kann Joachim Gauck eigentlich in einem politischen Problemklima für sich reklamieren, das ein ebenso nervöses wie ruhebedürftiges Volk noch erreicht? Da gibt es nur eines - Verfassungspatriotismus. Konzentriert sich der Präsident nicht auf Folklore, sondern auf das Regelwerk, das uns zusammenhält, dann kommen die großen Reden, Werte und Visionen ganz von allein. Denn es ist ja alles da: im Grundgesetz.
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