Ein Richterspruch fern von Gerechtigkeit - Leitartikel von Jochim Stoltenberg
Berlin (ots)
Der Rechtsstaat ist ein hohes Gut. Er schützt die Bürger vor Willkür, urteilt über Straftäter und schlichtet Streit. Er ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Doch die, die Recht sprechen, sind auch nur Menschen. Und damit fehlbar. Auch überfordert, es immer allen recht zu machen - dem Kläger, dem Beklagten und der öffentlichen Meinung. Das Gefühl, das Recht und Gerechtigkeit nicht immer eins sind, findet seinen Grund darin, dass das deutsche Strafrecht samt seiner Begleitgesetze für Nichtjuristen weitgehend ein Buch mit sieben Siegeln ist. Gestern ist wieder so ein Urteil gefällt worden, das zum Kopfschütteln Anlass gibt. Weil sie zu Unrecht jahrelang in Sicherungsverwahrung inhaftiert waren, hat das Karlsruher Landgericht vier Gewalt- und Sexualstraftätern eine Entschädigung pro Person zwischen 49.000 und 73.000 Euro zugesprochen. Nicht, weil nachträglich ihre Unschuld bewiesen worden wäre. Im Gegenteil. Die vier Männer galten auch nach Verbüßung der regulären Strafe weiter als extrem gefährlich und saßen deshalb weiter in Sicherungsverwahrung. Sie ist das schärfste Mittel im Strafvollzug gegen potenzielle Wiederholungstäter und dient dem Schutz der Bürger. Weil aber erst der Europäische Gerichtshof und dann das Bundesverfassungsgericht die Regeln für Sicherungsverwahrung gekippt haben, können die inzwischen entlassenen, älteren Männer an ihrem Lebensabend auf das hübsche Sümmchen hoffen. Ob sie die 500 Euro für jeden als rechtswidrig eingestuften Haftmonat wirklich verdient haben, daran müssen Zweifel erlaubt sein. Vor allem dann, wenn man diese Entschädigung mit der vergleicht, die an Opfer gezahlt wird, die unschuldig im Gefängnis gesessen haben. Im Falle des Justizirrtums bekommt der von einer staatlichen Instanz seiner Freiheit Beraubte gerade mal 250 Euro mehr, nämlich 750 Euro je Haftmonat. Ist das gerecht? Und anders als rechtskräftig Verurteilte erhalten Justizopfer keine Hilfen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das kann auch nicht gerecht sein. Da die Haftentschädigung für unzulässige Sicherungsverwahrung von grundsätzlicher Bedeutung ist, wird der Fall wohl vor dem Bundesgerichtshof landen. Das zumindest stimmt nach dem höchst strittigen gestrigen Urteil zuversichtlich. Noch unglaublicher angesichts des Karlsruher Richterspruchs ist die Erfahrung, die jüngst eine Berlinerin machen musste. Nicht nur, dass sie nach einem Fehlurteil wegen angeblichen Vatermordes unschuldig in Haft saß. Zusammen mit dem nachträglichen Freispruch beschloss das Kammergericht, die Frau habe das Gutachten, mit dem sie ihre Freiheit zurück gewann, mitzubezahlen. Das ist nicht nur ungerecht. Das ist zynisch. Es wird höchste Zeit, dass sowohl die Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung wie für die Entschädigung von Opfern der deutschen Justiz reformiert werden. Zu Erstem hat das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung binnen zwei Jahren aufgefordert, von denen eines bereits folgenlos verstrichen ist. An das Zweite wagt sich der Gesetzgeber bislang nicht heran. Offensichtlich, weil es sehr teuer werden könnte. Das allerdings ist eines Rechtsstaats unwürdig.
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