Fortschritt bedeutet Mut zum Fehler - Leitartikel von Hajo Schumacher
Berlin (ots)
Achtung, dramatische Information: Deutschland liegt nicht in allen Ranglisten auf den vorderen Plätzen. Beim Umgang mit Fehlern schaffen wir gefühlten Superteutonen es auf den vorletzten Platz von 61 untersuchten Ländern, nur Singapur rangiert dahinter. Nirgendwo sonst haben die Menschen mehr Angst davor, Fehler zu machen. Jogi Löw, so modern er daherkommt, ist ein typischer Deutscher. Aus Angst vor Fehlern hat er alles superrichtig zu machen versucht. Ob Koch, Psychologe, Physiologe, Analytiker - den deutschen Kickern stand für jede Lebenslage ein Experte zur Seite. In einem festungsähnlich abgeschotteten Hotel war der Tagesablauf biorhythmisch durchoptimiert. Der Zufall hatte draußen zu bleiben. Fest glaubte der Bundestrainer daran, dass sich Trophäen planen lassen. Und wir mit ihm. Von Mario Balotelli gibt es ein lustiges Foto. Die Mannschaftskameraden stretchen bäuchlings auf dem Rasen. Der italienische Stürmer aber, der die deutsche Elf im Halbfinale erledigte, liegt träge auf dem Grün und beobachtet gelangweilt die Turnübungen ringsum. Mitmachen? Nö. Bei Löw hätte sich das kein Spieler getraut. Der Trainingsplan musste erfüllt werden. Alles andere wäre ein Fehler. Verboten. Natürlich ist Erfolg nicht allein mit Exzentrikern zu erzielen. Aber mit null Fehlertoleranz eben auch nicht. Die gibt es nicht. Zufall, dass die eher zufällig nachnominierten Dänen 1992 den Titel holten oder 2004 die Griechen, die keiner auf dem Zettel hatte? Wieder Zufall, dass eine zerzauste italienische Elf überraschte? Eher nicht. Überraschungsteams sind in der Lage, sich blitzschnell auf Situationen einzustellen, die im Training nicht geübt worden sind. Es gehört Selbstbewusstsein dazu, in einer unerwarteten Lage richtig zu handeln. Deutsche Spieler gucken hilfesuchend zum Trainer. Naturwissenschaftler Tim Harford hat die Kraft der Improvisation in seinem Buch "Adapt" untersucht. Der Naturwissenschaftler verlacht die Planungshörigkeit von Experten, Politikern oder Trainern. Er plädiert fürs Ausprobieren, im Wissen, dass Scheitern dazugehört. "Erfolg beginnt mit Misserfolgen", so Hartford. Dazu gehört allerdings eine Fehlerkultur, vor allem beim Publikum. Im Vergleich zu anderen Teams hat sich die deutsche Elf nicht als lernendes System präsentiert. Es gehört zu den ewigen Gesetzen des Fußballs, dass spätere Titelträger in der Vorrunde oft mäßig gespielt haben. Das Team musste sich finden, frühe Fehler waren dienlich, um in der K.-o.-Runde weniger davon zu machen. Die Lernkurve der deutschen Mannschaft verlief genau andersherum, auch deswegen, weil wir so fehlerfeindlich sind. Jene deutsche Kultur, in der der Chef immer recht hat, reagiert mit Hohn und Verachtung auf jeden, der etwas falsch macht. Deswegen fällt es hierzulande so schwer, Fehler zuzugeben. Die Lehre für die WM 2014 lautet: Pläne sind gut, um sie auch mal zu ignorieren. Disziplin ist dem Lockerlassen nicht automatisch überlegen. Selbstbewusstsein wächst aus dem Gefühl, mit Unvorhergesehenem fertig geworden zu sein. Fortschritt bedeutet Mut zum Fehler. Und ein wenig Gelassenheit.
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