Kein Mut zu einer neuen Agenda
Leitartikel von Jochim Stoltenberg
Berlin (ots)
Eines werden ihm auch die ärgsten Gegner nicht absprechen können: Mut hat er gehabt, der Bundeskanzler Gerhard Schröder. Fälschlicherweise nicht mit seinem Namen, sondern dem seines Parteifreunds und sozialpolitischen Beraters Peter Hartz ist eine der größten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Nachkriegsgeschichte verbunden. Frei nach Martin Luthers "Hier steh ich. Ich kann nichts anders" hat Schröder das Reformwerk mit dem Ziel Überwindung von Wirtschaftsschwäche und Abbau der Arbeitslosigkeit gegen alle Widerstände durchgesetzt. Die tobten besonders in der eigenen Partei und den mit der SPD verbandelten Gewerkschaften. Gerhard Schröder hat dafür einen hohen Preis bezahlt: die Kanzlerschaft frühzeitig verloren, seine Helfer von einst werden weiter als "Schröderianer" verfemt, die Gründung der Linkspartei ist die Antwort der schärfsten Feinde auf die angeblich soziale Kahlschlagspolitik. Welche Verkennung der Wirkung des Reformwerks bis zum heutigen Tag. In der Tat haben sich nicht alle mit großem Tamtam vor zehn Jahren im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt geweckten Erwartungen erfüllt. Aber längst sind sich Konjunkturforscher und Arbeitsmarktexperten einig, dass Deutschland trotz der Finanz-, dann der Wirtschafts- und jetzt der Euro-Krise nicht so vergleichsweise beneidenswert dastünde, hätte Schröder der Mut verlassen. Das Grundprinzip der Hartz-Gesetze, nämlich Fördern und Fordern, hat entscheidend dazu beigetragen, die Zahl der Arbeitslosen nahezu zu halbieren auf jetzt knapp unter drei Millionen. Und die Liberalisierung der verkrusteten Regelungen auf dem Arbeitsmarkt hat der Wirtschaft die Flexibilität geschaffen, um auf dem Weltmarkt zu bestehen. Nicht alle Erwartungen erfüllten sich - die Ich-AG schuf so wenig einen tragfähigen Gründerboom wie die Ein-Euro-Jobs den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt. Die Hartz-Gesetze sind mehr als nur das fast schon verächtliche vierte Gesetz, das die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe regelt. Sie führen individuell gewiss zu Härten; insbesondere für Alleinerziehende mit Kindern, für Arbeitnehmer, denen nach längerem Erwerbsleben beim Verlust des Jobs Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beschnitten werden oder im Falle von Erspartem, das mit Hartz IV verrechnet wird. Da musste zu Recht einiges nachgebessert werden. Aber auch der Sozialstaat eines wohlhabenden Landes darf nicht überdehnt werden, soll er den wirklich Schwachen dauerhaft helfen. Eine Einsicht, aus der die Regierung Schröder mit den Hartz-Gesetzen überfällige Konsequenzen gezogen hat. Die Agenda 2010 beweist, dass tiefgreifende Reformen in Deutschland auch heute noch möglich sind. Vorausgesetzt, die handelnden Personen haben Mut, Stehvermögen und setzen das Wohlergehen des Landes über das der Partei. Gerhard Schröder hat die Ernte nicht einfahren können, weil seine Partei bis heute nicht über den Tag hinausdenken will. Nachfolgerin Angela Merkel hat das Erbe willig angenommen und lebt bislang recht gut damit. Doch der Mut, selbst überfällige Reformen durchzusetzen, geht ihr ab. Im Kanzleramt sitzen zu bleiben hat für sie Vorrang.
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