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Leitartikel von Marius Schneider

Berlin (ots)

Stellen Sie es sich noch einmal vor: Ein Mann geht mit seiner kleinen Tochter abends nach Hause. Sie ist sieben Jahre alt, und sie geht an seiner Hand, der Hand ihres Vaters. Doch plötzlich erscheinen vier junge Männer. Sie beleidigen und bedrohen den Vater und das kleine Mädchen in übelster Weise. Schließlich schlägt einer dem Vater des Mädchens vor dessen Augen brutal ins Gesicht, bricht Knochen in seinem Schädel. Und nun fragen Sie sich für eine Sekunde: Ist es ein Unterschied, ob - wie am Dienstagabend in Schöneberg geschehen- ein jüdischer Mitbürger in Berlin auf offener Straße misshandelt wird oder irgendjemand anders? Vom menschlichen Standpunkt aus ist die Antwort glasklar und einfach: Nein. Für unsere Gesellschaft ist jeder Zustand unerträglich, in dem Menschen um Leib und Leben fürchten müssen, weil sie die Symbole ihres Glaubens tragen - egal, welche das sind. Jeder, der dieses Recht verletzt, verletzt damit auch den normativen Grundkonsens dieser Gesellschaft: Ihn muss die volle Härte des Rechtsstaates treffen - aber auch die entschiedene Ablehnung von uns Mitbürgern. Die historische Realität allerdings verlangt auch eine zweite Antwort. Und sie lautet: Ja, es ist ein Unterschied. Jeder Vorfall wie dieser muss die Alarmglocken einer Gesellschaft schrillen lassen. Doch an dieser besonderen Glocke, an der der Gewalt gegen unsere jüdischen Nachbarn, kleben noch die Fingerabdrücke unserer Väter und Großväter. Sie wurde schon einmal von einem ganzen Land, unserem Land, festgehalten und zum Schweigen gebracht. In der Tat gibt es auch jetzt, angesichts der Tat von Schöneberg, Menschen, die aus ihrer spontanen Empörung heraus Bürgerinitiativen gründen. Sie sind echte Vorbilder. Und die verdrückt schweigende Menge derer, die - auch in den, wie man so schön sagt, "gutbürgerlichen" Kreisen - doch schnell wieder vom "Es muss auch mal Schluss sein" raunen, wenn es um das besondere historische Verhältnis zu unseren Landsleuten jüdischen Glaubens geht? Sie leisten einem mit neuen und uralten Ressentiments durchzogenen Relativismus Vorschub, der unsere Abwehrreflexe gegen gewaltbereite und antisemitische Gruppen gefährlich schwächt. Jüdische Eltern wollen im Deutschland des Jahres 2012 ihren Kindern raten, nicht mehr mit Kippa aus dem Haus zu gehen? Das ist schlicht unerträglich! Nein: Es kann nicht Schluss sein. Niemals. Wer echtes, erwachsenes Selbstbewusstsein aus der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts zieht, der nimmt diese historische Verantwortung auch bewusst an. Und die Täter? Auch wenn sie aus anderen, zum Beispiel muslimischen Umfeldern mit anderen historischen und kulturellen Perspektiven auf das Judentum kommen mögen: Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass wir sie als Teil unserer Gesellschaft mit unseren Maßstäben messen - und ihre Taten nicht dulden. Es kann gegenüber Gewalt an unseren jüdischen Mitbürgern nur eine Seite geben: die der Kippa!

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