Staunen über den Wahlkampf
Leitartikel von Jochim Stoltenberg
Berlin (ots)
Nun ist er also auch der offizielle Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Mitt Romney ist lange von den Amerikanern, selbst von denen seiner eigenen Partei, nicht ganz ernst genommen worden. Der Wind zu seinen Gunsten hatte sich schon vor dem Nominierungskonvent gedreht. In Umfragen liegt er gleichauf mit Barack Obama. Das ist für viele Europäer schwer zu begreifen. Mitt Romney, der politische Haudrauf, chancenreich gegenüber Obama, von dem Amerikaner wie Europäer vor vier Jahren wahre Wunder erwartet hatten? In Amerika ist die Begeisterung für ihren ersten farbigen Präsidenten längst nüchterner Betrachtung gewichen. Anders die Stimmungslage in Europa. Die Sympathiewerte für Obama sind weiter hoch, der Multimillionär Romney wird dagegen als Finanzspekulant und an Peinlichkeit kaum zu überbietender außenpolitischer Ignorant abgetan. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass die Europäer, vorneweg die Deutschen, die Stimmungslage in Amerika falsch einschätzen. Jenseits von Amerika werden Präsident und Kandidat vorrangig nach deren außen- und sicherheitspolitischen Positionen bewertet. Da liegt Obama klar vorn: Friedensnobelpreis, Irak-Krieg beendet, das Trauma Osama Bin Laden überwunden. Erfolge, die auch in Amerika zählen. Aber entscheidender für die Wähler dort sind - wie übrigens auch in Deutschland - heimische Problemlösungen. Und da sind Obamas Erfolge eher rar. Gigantische Haushaltsdefizite, eine Arbeitslosenquote von acht Prozent, dazu eine Wirtschaftslage, die von keiner Wende zur Besserung kündet. Das drängt den Präsidenten in die Defensive, ohne dass sein Herausforderer mit überzeugenden Alternativen glänzen muss. Selbst Obamas aus europäischer Sicht größter innenpolitischer Erfolg, die Gesundheitsreform, spaltet das Land. Romney sieht in ihr sozialistisches Teufelswerk, zum Untergang verdammt, sollte er gewinnen. Hüten wir uns vor vorschnellen Urteilen. Schon einmal haben wir uns über einen Präsidentschaftskandidaten lustig gemacht. Der war auch Republikaner. Er hieß Ronald Reagan. Und hat mit Michail Gorbatschow das Wettrüsten zwischen Ost und West beendet und die Weichen für die deutsche Wiedervereinigung gestellt. Erst die Amtsführung beweist, wie fähig ein Präsident wirklich ist.
Kontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de