Voyeure des Untergangs
Leitarikel von Hajo Schumacher
Berlin (ots)
Das Grauen kam in Superzeitlupe. Selten zuvor in der Geschichte der Menschheit näherte sich eine Katastrophe derart berechenbar. Route und Kraft des Hurrikans "Sandy" waren bereits Tage zuvor halbwegs zuverlässig vorausgesagt. Kein Wissenschaftler musste fürchten, für Fehlprognosen belangt zu werden wie Erdbebenforscher in Italien. Technik und Kommunikation gaben vielen Menschen die Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Dennoch bleibt Beklommenheit angesichts dieses Infernos in Echtzeit. Die schaudernde Erwartungslust, mit der der erste knickende Baukran, der erste Stromausfall, der erste Tote um die Welt gejagt wurden, hat Züge von Untergangsvoyeurismus. Zuschauer überboten sich online mit ihren Unwetterfotos aus Manhattan und fragwürdigen Scherzen. Auch Katastrophen eröffnen in Zeiten globaler Kommunikation einen seltsamen Wettbewerb darum, wer mit seinen Facebook-Beiträgen die meisten Like-Daumen ergattert. Nein, keine schlechtlaunige Kulturkritik, nur eine hilflose Feststellung mit angehängter Geschmacksfrage.
Was mögen angesichts des Katastrophenspektakels die Bewohner Bangladeschs oder der karibischen Inseln denken, denen die Natur mehrmals im Jahr die kargen Hütten wegreißt, ohne dass die Welt zuschaut oder gar Anteil nimmt? Die Getroffenen in den USA werden fluchen und trauern, aber trotz der immensen Schäden aufstehen und weiterrackern.
Und die politische Dimension des Hurrikans? Zugegeben, eine durchaus zynische, eine Woche vor der US-Wahl aber naheliegende Frage. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die eisige Kühle der Wahlkampfstrategen auszumalen, die die starken Emotionen dieser Stunden nutzen wollen. Die Frage, was Show ist und was echte Anteilnahme, erübrigt sich wohl, solange den Opfern geholfen wird.
Ja, ein Hurrikan kann den bei Wahlkämpfern ebenso erhofften wie gefürchteten Swing bewirken, jene mit den alltäglichen Mitteln der Kampagne nicht zu schaffende Mobilisierung der letzten Tage. Auch wenn das Ausmaß der Schäden nicht zu vergleichen ist, so half das Hochwasser an Oder und Elbe dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Spätsommer 2002 in seine zweite Amtszeit, ein denkbar knapper Sieg in Gummistiefeln. Krisenzeiten sind Führungszeiten, die Menschen wollen lieber doch keine Experimente, wählen das Vertraute. Obamas Lager setzt also alles daran, den Chef im Rettermodus zu positionieren. Werden wir den US-Präsidenten noch mit Regenjoppe und besorgtem Blick durch Manhattan stiefeln sehen? Den Herausforderern bleibt nicht mehr als die Rolle des Zuschauers. Wahltaktische Spielchen, etwa Kritik am Regierungschef verbieten sich, solange keine groben Fehler gemacht werden - wie George-Junior Bush bei Wirbelsturm "Katrina".
Wird "Sandy" womöglich Obamas wichtigster Wahlhelfer? Reicht eine teilverwüstete Ostküste überhaupt für einen landesweiten Swing? Natürlich sind die Fragen allein schon eklig. Gleichwohl entsprechen sie der Logik des politischen Pragmatismus. Alle Folgen von Hurrikan "Sandy" werden sich erst am 6. November zeigen.
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