Alle Storys
Folgen
Keine Story von BERLINER MORGENPOST mehr verpassen.

BERLINER MORGENPOST

Letzter Rettungsversuch
Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Berlin (ots)

Natürlich muss auch in einer Koalition um die richtigen Entscheidungen gerungen, darf über ein gemeinsames Projekt auch mal gestritten werden. Doch was sich CDU, CSU und FDP in den letzten Jahren an gegenseitigen Verletzungen beigebracht haben, ist mehr, als die demokratischen Spielregeln einer Regierung erlauben. Die Liberalen hat das an den politischen Abgrund geführt. Und gemeinsam dürfte in den bürgerlichen Parteien Hoffnung und wohl auch Lust geschwunden sein, ihr schwarz-gelbes Bündnis fortzusetzen. Bei etwas mehr politischem Verstand, gegenseitigem Wohlwollen und einem Restgespür von Verantwortung gegenüber der bürgerlichen Klientel, die dieser Koalition vor drei Jahren ein so klares Regierungsmandat übertragen hat, hätten Merkel, Seehofer und Rösler den Zwang zur Einigung schon viel früher vollziehen müssen. Sie hätten sich viel Zittern vor den nächsten Wahlterminen in Niedersachsen, in Bayern und schließlich im Bund ersparen können.

Was Sonntagnacht im Kanzleramt beschlossen wurde, und auf den ersten Blick einmal mehr allenfalls als kleinster gemeinsamer Nenner erscheint, kann sich bei genauerer Betrachtung durchaus sehen lassen. Betreuungsgeld gegen Praxisgebühr zum Beispiel ist weit mehr als ein billiges Tauschgeschäft zur gegenseitigen Befriedung. Dabei ist die Abschaffung der Praxisgebühr überfällig. Sie hat ihr eigentliches Ziel, überflüssige Arztbesuche zumindest zu verringern, eindeutig verfehlt. Zudem sind die Kassen der Krankenversicherungen so gut gefüllt, dass eine Entlastung der Bürger geboten ist. Zu recht strittiger ist das Betreuungsgeld. Aber warum darf eine bürgerliche Partei nicht auch an die Eltern denken, die sich intensiv und liebvoll lieber zu Hause um ihre Kinder kümmern wollen, als sie in der Kita erziehen zu lassen? Wahlfreiheit ist in einer Demokratie ein hohes Gut. Sie darf nicht derart verfemt werden, wie es in der Diskussion über das Betreuungsgeld geschieht.

Und der beschlossene Einstieg in die Bekämpfung der Altersarmut ist gewiss noch nicht der große Wurf. Aber zumindest das erste konkrete Bemühen, ein unweigerlich auf die Gesellschaft zurollendes Problem zu mildern. Die Opposition hat da außer scharfer Kritik und Forderungen an die Wirtschaft (höhere Löhne) noch nichts Ebenbürtiges anzubieten. Schließlich die Vereinbarung, schon 2014 einen Haushalt ohne "strukturelles Defizit" vorzulegen. Auch die Verständigung darüber ist angesichts der immer neuen Rekordeinnahmen bei den Steuern eigentlich überfällig. Allein in den kommenden fünf Jahren, so die neueste Herbststeuerschätzung, werden die Einnahmen des Gesamtstaates um weitere 100 Milliarden auf dann (2017) 706 Milliarden Euro steigen.

Ein Befreiungsschlag also, was da am Sonntag beschlossen wurde? Dazu hätten die drei Parteien die gegeneinander aufgestellten Hürden viel früher abreißen müssen. Deshalb nur ein letzter Rettungsversuch. Ob er die Chance zum Überleben birgt - das gilt vor allem für die Liberalen -, wird schon im Januar der niedersächsische Wahlabend zeigen.

Kontakt:

BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

Weitere Storys: BERLINER MORGENPOST
Weitere Storys: BERLINER MORGENPOST
  • 30.10.2012 – 20:27

    Voyeure des Untergangs / Leitarikel von Hajo Schumacher

    Berlin (ots) - Das Grauen kam in Superzeitlupe. Selten zuvor in der Geschichte der Menschheit näherte sich eine Katastrophe derart berechenbar. Route und Kraft des Hurrikans "Sandy" waren bereits Tage zuvor halbwegs zuverlässig vorausgesagt. Kein Wissenschaftler musste fürchten, für Fehlprognosen belangt zu werden wie Erdbebenforscher in Italien. Technik und Kommunikation gaben vielen Menschen die Chance, sich in ...

  • 29.10.2012 – 22:48

    Ehrung statt Sonntagsreden / Leitartikel von Jochim Stoltenberg

    Berlin (ots) - Unter den 136 toten Flüchtlingen an der Berliner Mauer ist das Drama um Peter Fechter das bedrückendste und weltweit bekannteste. Des damals 18-jährigen Maurergesellen, der am 17. August 1962 im Mauerstreifen von DDR-Grenzsoldaten angeschossen wurde und dort ohne jede Hilfe verblutete, wird deshalb an den Jahrestagen von den Politikern dieser Stadt mit Kränzen und mitfühlenden Worten gedacht. Aber zu ...

  • 27.10.2012 – 18:40

    Partei oder Schulhof 2.0 Hajo Schumacher über die Ankunft der Piraten-Partei in der Realität

    Berlin (ots) - Keine Sorge, die Demokratie ist nicht in Gefahr, auch wenn die Piraten 2013 den Bundestag entern, was neuen Umfragen zufolge fraglich ist. Die Republik ist der neuen Partei schon jetzt zu Dank verpflichtet. Denn auf großer Bühne tanzen die jungen Kräfte eindrucksvoll vor, worum es im Leben und in der Politik geht: um Geld, um Macht, um Mehrheiten, ...