Wahlplakate zum Weglaufen/ Ein Leitartikel von Jochim Stoltenberg
Berlin (ots)
Nun hängen und stehen sie wieder überall an den passendsten und unpassendsten Stellen. Und sie sind noch langweiliger und eintöniger als vor einem halben Jahr. Gemeint sind die Plakate zur Europawahl in vier Wochen. Slogans wie "Gerechtigkeit in Europa", "Wachstum sichern" oder "Liebe kennt keine Grenzen" sind an Banalität und Einfallslosigkeit kaum noch zu überbieten. Statt zum Gang ins Stimmlokal zu animieren, schrecken sie ab. Dabei geht es am 25. Mai wirklich um etwas. Das wird vor fast jeder Wahl in demokratischen Gesellschaften behauptet, weil das Volk dann das Recht hat, über seine und des Landes Zukunft zu entscheiden. Aber diese Europawahl ist tatsächlich etwas Besonderes, weil von ihr gleich mehrere Signale ausgehen.
Dabei geht es europapolitisch um die Mehrheitsverhältnisse in einem Parlament, das fortan mehr Macht hat denn je. Erstmals wird der EU-Kommissionspräsident nicht länger von den Regierungschefs in Klüngelrunden ausgehandelt. Er kann nur noch mit der Zustimmung der Abgeordneten gekürt werden. Wer also zur Wahl geht, entscheidet mit, wer der mächtigste Mann in Brüssel wird.
Es gilt zugleich, mit der Stimmabgabe die demokratische Entwicklung innerhalb Europas zu stärken. Rechtsextremistische und nationalistische europafeindliche Parteien erleben fast überall in Europa bedenklichen Zulauf. In Frankreich ebenso wie in Dänemark, den Niederlanden oder Griechenland; und auch in Deutschland mit der AfD. Das Schüren von nationalistischen Parolen darf das Zusammenwachsen Europas, das uns Frieden, Sicherheit und, insbesondere uns Deutschen, Wohlstand beschert, nicht schon wieder aufs Spiel setzen. Je höher die Wahlbeteiligung, desto geringer die Chancen für die Extremisten.
Welchen Wert ein geeintes Europa darstellt, müsste auch den schärfsten EU-Kritikern klar werden, seit Putins neue Machtgelüste schrecken. Der wartet nur darauf, Europa wieder spalten und damit entscheidend schwächen zu können. Auch dagegen sollte am 25. Mai dank hoher Wahlbeteiligung ein deutliches Zeichen gesetzt werden.
Noch haben die Parteien vier Wochen Zeit, überzeugender für sich und das vereinte Europa zu werben. Wem das alles zu weit weg bleibt, kann am selben Tag auch über ein Berliner Problem entscheiden. Und sollte dann zusätzlich zum Votum über die Zukunft des Tempelhofer Feldes schnell noch den Europawahlzettel ausfüllen.
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