Weil in der Praxis mit fiktiven Werten gemessen wird, fallen behinderte Menschen häufig durch die Maschen der IV und werden zu Sozialfällen. Jetzt liegen umfassende Studien vor, die hellhörig machen.
Aarau/Zürich (ots)
Darum geht es
Der faire Zugang zu Invalidenleistungen war in den vergangenen Jahren Gegenstand grösserer Kontroversen in der Politik und der Rechtswissenschaft. Insbesondere die Thematik der medizinischen Gutachten (gesundheitliche Komponente des Invaliditätsbegriffs) stand im Vordergrund. Weniger Aufmerksamkeit wurde der erwerblichen Seite des Invaliditätsbegriffs geschenkt.
Die Praxis
Die Coop Rechtsschutz AG stellte im Rahmen der Bearbeitung von tausenden sozialversicherungsrechtlicher Rechtsfällen fest, dass gesundheitlich dauernd in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtige Menschen durch die Maschen der Invalidenversicherungen fallen. Dies, weil von der Verwaltung und den Gerichten für die Beurteilung des Invaliditätsgrades auf Fiktionen und pauschalisierte Annahmen zurückgegriffen wird, welche die realen Verhältnisse nicht abbilden. Diese Praxis wirkt sich in mehrfacher Hinsicht einseitig nachteilig auf die behinderten Personen aus. Die Coop Rechtsschutz AG gab in dieser Sache drei Studien bei namhaften Wissenschaftlern in Auftrag.
Die Studien
Die Gutachten von Prof. Dr. Thomas Gächter (Universität Zürich), Dr. iur. Philipp Egli (ZHAW, Winterthur) und lic. rer. soc. Jürg Guggisberg (Büro Bass, Bern) kommen zum Schluss, dass der für die Bestimmung des Invaliditätsgrades vergleichsweise herangezogene ausgeglichene Arbeitsmarkt von der Verwaltung und den Gerichten in den letzten Jahren immer mehr in Richtung einer abstrakten Fiktion gerückt wird und sich stetig mehr vom real existierenden Arbeitsmarkt entfernt.
Diese Fiktion geht von einem Arbeitsmarkt aus, auf dem jedermann ein nach seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht und der auch Nischenarbeitsplätze anbietet. Der betroffenen Person wird daher eine (Rest-)Erwerbsfähigkeit zugemessen, welche sie schlicht nicht wahrnehmen kann bzw. für welche sich keine reale Stelle finden lässt. Als Folge davon erhalten die behinderten Menschen oft keine oder aber signifikant reduzierte Leistungen der Invalidenversicherung.
Konkretes Beispiel
In einem IV-Entscheid aus dem Jahr 2020 wurde folgendes Arbeitsprofil als im Arbeitsmarkt verwertbar erachtet:
"Gemäss medizinischer Beurteilung besteht für zeitlich flexible Tätigkeiten, ohne permanenten Zeit- und Termindruck, bei nur geringem Publikumsverkehr, ohne besondere Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen in einer konfliktarmen Arbeitsatmosphäre eine 100% Arbeitsfähigkeit. In einer solchen leichten Hilfstätigkeiten könnten Sie gemäss Tabellenlöhne des Bundesamtes für Statistik einen Jahreslohn von Fr. 54'954.60 erzielen."
Wir fragen: Welcher Arbeitgeber stellt heute eine solche Person ein und bezahlt einen Jahreslohn von 55'000 Franken?
Falsche Vergleichswerte
Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung bezüglich der sogenannten Invalideneinkommen, welche in diesen (Rest-) Erwerbstätigkeiten erzielt werden können, regelmässig auf hochaggregierte statistische Erhebungen, zumeist auf die Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) abstellt. Hiervon werden als Korrekturinstrument in gewissen Fällen sogenannte leidensbedingte Abzüge gewährt, was in der Regel zu einer Erhöhung des Invaliditätsgrades führt. Klare und einigermassen voraussehbare Leitlinien bestehen aber nicht.
Die in der erwähnten LSE aufgeführten Medianlöhne ergeben sich hauptsächlich aus der Erhebung von Löhnen gesunder Personen und widerspiegeln die von beeinträchtigten Personen erzielbaren Löhne nur unzureichend wider. Die von der Coop Rechtsschutz in Auftrag gegebenen Studien untersuchte nun schweizweit erstmals die statistisch nachweisbaren Lohneinbussen von behinderten Menschen. Unter anderem kommen sie zum Schluss, dass die Löhne von erwerbstätigen IV-Rentnerinnen und -Rentnern rund 14 % unter dem Mittel- und gar 17 % unter dem Medianlohn der LSE-Erhebungen liegen. Die pauschale Anwendung der genannten Tabellenlöhne führt also zu einer weiteren ungerechtfertigten Benachteiligung behinderter Personen.
Brisante Entwicklung
Die in ihrer Art einmaligen und umfassenden Studien listen eine Reihe weiterer praxisrelevanter Unzulänglichkeiten der praktizierten Invaliditätsberechnung der Verwaltung und der Gerichte auf. Sie erhalten zusätzliche Brisanz durch die Tatsache, dass aktuell das Vernehmlassungsverfahren zur Weiterentwicklung der Invalidenversicherung läuft. Im Rahmen dieser Weiterentwicklung sollen die zur Bemessung des Invaliditätsgrades massgebenden Erwerbseinkommen sowie die anwendbaren Korrekturfaktoren auf Verordnungsstufe geregelt werden. Damit würden noch mehr gesundheitliche beeinträchtigte Personen um ihre berechtigten Ansprüche gegenüber der Invalidenversicherung gebracht und an die Sozialhilfe weitergereicht.
Weissenstein Symposium
Die für 5. November 2020 geplante Veranstaltung auf dem Weissenstein musste aufgrund der Coronalage abgesagt werden und wurde am 5. Februar 2021 als Online-Veranstaltung aus dem Studio StageOne in Zürich-Oerlikon gesendet. Die Veranstaltung trug den Titel "Fakten oder Fiktion? Die Frage des fairen Zugangs zu Invalidenleistungen". Initiantin des Weissenstein Symposiums ist die Coop Rechtsschutz AG. Für den Anlass eingeladen waren Politikerinnen und Politiker, Fachexperten aus dem Case Management, Anwält*innen sowie Fachleute aus der Verwaltung, aus Gerichten, Gewerkschaften und Organisationen. www.wesym.ch .
Pressekontakt:
Petra Huser, Leitung Kommunikation Coop Rechtsschutz, T. +41 62 836 00 40 | petra.huser@cooprecht.ch
Daniel Siegrist, CEO Coop Rechtsschutz, T. +41 62 836 00 44 | daniel.siegrist@cooprecht.ch