Pressemitteilung: «Durch die Linse: Fotografien aus dem Psychiatriealltag» und «Living Museum Wil – Tagträume»
DIALOGAUSSTELLUNGEN
Durch die Linse
Fotografien aus dem Psychiatriealltag
Willi Keller und Roland Schneider
und
Living Museum Wil – Tagträume
28. März – 11. Juli 2021
Open Day: Sonntag, 28. März 2021, 11-17 Uhr
Presse-Preview: individuelle Termine nach Vereinbarung
Ihre Aufnahmen zeugen von unterschiedlichen Perspektiven: Während der Künstler Willi Keller (*1944) den Alltag der Psychiatrischen Klinik Burghölzli um 1970 als Pfleger fotografiert, hält der Industriefotograf Roland Schneider (*1939) die Psychiatrische Klinik Solothurn 1987 als Patient mit der Kamera fest. Beide zeigen einzigartige intime Einblicke, immer nahe am Menschen.
Psychiatrische Kliniken sind für die Allgemeinheit unbekannte Territorien – «Unorte», die gemieden werden. Im Dialog zu den Fotografien aus dem Psychiatriealltag von Willi Keller und Roland Schneider zeigt das Museum im Lagerhaus aktuelles künstlerisches Schaffen aus dem Living Museum Wil. Den Fotoporträts als Bild vom Patienten stehen Patient*innen als Bildschaffende gegenüber. Dem innovativen Konzept des Living Museums aus New York sind Institutionen weltweit gefolgt.
Durch die Linse – Fotografien aus dem Psychiatriealltag
Anders als eine repräsentative Klinikdokumentation bieten die Fotografien von Willi Keller und Roland Schneider einen einzigartigen intimen Einblick in den Psychiatriealltag. Während der Künstler Willi Keller (*1944) 1970 als Pfleger im Burghölzli in Zürich tätig ist, befindet sich der bekannte Industriefotograf Roland Schneider (*1939) im Sommer 1987 in einer Krise als Patient in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Solothurn. Beide nutzen ihren professionellen Fotografenblick durch die Linse, uns die Lebenssituation in der Klinik und die Patient*innen näher zu bringen. Die Kamera wird zum Bindeglied zwischen Fotografen und Patient*in und steht zugleich zwischen ihnen. Sie schafft Nähe und verleiht dem Fotografen, der hinter der Kamera ohne Blickkontakt zu den Porträtierten bleibt, doch Distanz.
Anders als Willi Keller kommt Roland Schneider den Patient*innen nicht nur sehr nahe, sondern ist selber einer von ihnen. Berichtet Willi Keller in seiner Fotoserie über den Klinikalltag, den er wohl mit den Patient*innen teilt, spricht Roland Schneider vom Erlebten des selbst Betroffenen. Ist diese Verschiebung der Perspektive im Bild sichtbar? Lassen sich Unterschiede innerer Distanz erkennen?
Die Fotografien beider Künstler bieten mehr als rein visuelle Eindrücke. Sie vermitteln weitreichende sensorische Empfindungen des Klinikalltags: Beengtheit, Lärm und Stille, den Geruch auf den Abteilungen. Da sind die Motive einer entindividualisierten Medizin, die mit Betten gefüllten Schlafsäle und Reihen sanitärer Anlagen. Willi Keller und Roland Schneider setzen ihnen Bilder der Patient*innen entgegen, ihre Einsamkeit in der Menge, ihre Verlorenheit, die Lange-Weile und Verrückungen in eigene Welten. Der Blick durch die Linse ist direkt, nie beschönigend, aber auch nicht voyeuristisch, sondern immer zugewandt und nahe am Menschen.
Erstaunlich und heute undenkbar ist die Offenheit der Klinikleitungen, mit der sie die Fotografen frei arbeiten lassen.
Willi Keller im Burghölzli, Zürich
Mit Einverständnis der Klinikleitung dokumentiert Willi Keller als Psychiatriepfleger im Burghölzli den Patientenalltag, eine der Öffentlichkeit unbekannte Welt. Eine Ausstellung über das Leben im Burghölzli ist geplant. Doch dazu kommt es nicht mehr. Bei der Brandkatastrophe am 6. März 1971 kommen 28 Patienten ums Leben. Am stärksten betroffenen ist die geriatrische Abteilung, wo auch Willi Keller gearbeitet hat. Von vielen Opfern hat er das letzte Bild gemacht. Nach dem Unglück gehen die Bilder im Archiv des Fotografen vergessen. Erst 2014, ein halbes Jahrhundert später, stösst Willi Keller wieder auf sie. Publiziert werden sie 2017 unter dem Titel «Eingeschlossen. Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli zur Zeit der Brandkatastrophe von 1971» im Chronos-Verlag. Ausgestellt waren sie bis jetzt noch nie.
Willi Kellers Fotografien sind auch eine Hommage an die Opfer. Die Brandkatastrophe fällt in eine Zeit des gesellschaftlichen Um- und Aufbruchs, der ebenso das Selbstverständnis der Psychiatrie erfasst. Willi Keller bleibt mit der Kamera stets nah bei den Patienten. Sein Blick ist respektvoll, nie anklagend. Immer wieder blitzt Heiterkeit auf. Als Insider protokolliert er den Klinikalltag und dokumentiert ihn nicht nur in seinen Fotografien, sondern auch in selbst verfassten Bildbeschreibungen.
Biografie Willi Keller
geboren in Schaffhausen, besucht 1961 die Kunstgewerbeschule Zürich, 1975/76 folgt ein Studium der Druckgrafik. Als freischaffender Künstler lebt und arbeitet er von 1972-1982 in Zürich und seit 1982 in Marbach SG. Studienaufenthalte 1974 im staatlichen Künstleratelier Amsterdam, 2000 in der Cité Internationale des Arts, Paris. 2001 erhält Willi Keller den Anerkennungspreis der Arbeitsgemeinschaft Rheintal-Werdenberg.
Roland Schneider in der Psychiatrischen Klinik Solothurn
„Was erlaubt mir eigentlich, hier herumzufotografieren? Wer bin ich, der hier inmitten dieser Menschen steht und Bilder schiesst? Wer gibt mir das Recht, diese Menschen hier gewissermassen hinterrücks zu überfallen, ohne sie zu fragen?
Als was stehe ich hier? Als Irrer, so wie sie? Als Besucher, der jederzeit aus eigenem Willen diesen Ort hier wieder verlassen könnte? Ein Tourist also, mit Kamera? Oder ein Voyeur, der vom Unglück der anderen profitiert?“
(Roland Schneider, 1987)
Im Sommer 1987 erlebt Roland Schneider eine persönliche Krise, die zum Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Solothurn führt. Er erhält die Möglichkeit, in der Klinik nach freiem Ermessen zu fotografieren. Dabei zeigt sich, dass die künstlerische Arbeit einen Weg zur Neuentdeckung seiner schöpferischen Kraft und damit zur Genesung darstellt. Die Fotografien sind Zeugnis seiner persönlichen «Zwischenzeit». Aufschlussreich sind die Fotografien, die er vom eigenen Zimmer in der Klinik macht. Die Wände mit Fotos und Bildern gepflastert, den Raum mit diversen Utensilien gefüllt, hat Roland Schneider das Patientenzimmer okkupiert und zum Fotoatelier gewandelt.
1988 zeigt Roland Schneider seine Arbeiten in der Klinik Solothurn unter dem Titel «Zwischenzeit oder der Weg ins Freie» sowie auch «Psychiatrie fotografisch eingefangen» und richtet die Ausstellung auch selbst ein. Im Zentrum steht der «Wühltisch-Raum»: Auf einem 7 Meter langen Tisch hat er rund 120 Fotografien in Klarsichtmappen ausgelegt, in dem das Publikum sich durch die «Zwischenzeit» Roland Schneiders wühlt. Schliesslich fotografiert er auch die Ausstellung und das Publikum an der Vernissage. Hier mischen sich externe Besucher*innen mit Patient*innen und der Ärzteschaft. Mit grossem Interesse und einer überraschenden Selbstverständlichkeit widmet sich das Publikum den intimen Bildern des Klinikalltags und scheint diesem ohne Scheu zu begegnen. Dem gegenüber mutet der heutige Umgang mit Psychiatrie bzw. Psychiatrieerfahrung stärker tabuisiert an.
Biografie Roland Schneider
Roland Schneider studiert von 1960 bis 1963 an der Folkwang-Hochschule für Gestaltung in Essen Fotografie bei Otto Steinert, dem Begründer der «Subjektiven Fotografie» und einer der bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen der Nachkriegszeit. Das Spiel mit Licht und Schatten, mit stark kontrastierenden satten Schwarzflächen, der Hervorhebung von Strukturen, welche die Fotografie in eine bildhafte Abstraktion führen, radikale Ausschnitte – all diese Gestaltungselemente finden sich auch in der Fotografie Roland Schneiders. Früh spezialisiert er sich auf die Industriefotografie, wobei die Beziehung Mensch-Industrie im Zentrum seines Schaffens steht. 1972 bis um 1990 arbeitet er mit dem Fotografen Franz Gloor zusammen. Roland Schneider hat verschiedene nationale und internationale Auszeichnungen erhalten, 1982 den Kunstpreis des Kantons Solothurn. Sein fotografisches Werk ist im Historischen Museum Olten aufbewahrt.
Stets begleiten dokumentarische oder künstlerische Texte die Fotografien von Roland Schneider. Er führt Gespräche mit Arbeiter*innen, die er «Oral Histories» nennt. Ziel seiner Arbeit ist seit 1960 der Aufbau einer «Fotografischen Enzyklopädie der industriellen Arbeitswelt», konzentriert auf die Region des Kantons Solothurn, mit dem Titel «Solodorensia».
Living Museum Wil: Patient*innen als Kunstschaffende
Noch immer gilt psychische Erkrankung als Stigma und psychiatrische Kliniken sind für die Allgemeinheit unbekannte Territorien – «Unorte», die gemieden werden. Die Fotografien von Roland Schneiders und Willi Keller wie auch das Kunstschaffen im Living Museum Wil deuten diese Orte um. Der «Unort» Psychiatrie wird hier zum Ort verschiedener, auch künstlerischer Möglichkeiten. Die Werke schaffen Raum für Differenzierung und Hinterfragung und fordern uns auf, Psychiatrie neu wahrzunehmen.
Das Living Museum stellt eine Art «Kunstasyl» dar, in welchen Menschen mit psychischen Erkrankungen schöpferisch tätig sind. Es ist Atelier und Ausstellungsraum zugleich: Hier wird im Kunstschaffen gelebt und in der Kunstpräsentation gearbeitet. Dem 1983 in New York gegründeten, innovativen Konzept des Living Museum, eines freien Kunstraums für Menschen mit psychischen Erkrankungen, sind Institutionen weltweit gefolgt.
Das Living Museum Wil besteht seit 2002 und bildet sich aus den Ateliers-Living Museum sowie dem Naturatelier der Psychiatrie St.Gallen Nord und der Tagesstätte der Stiftung Heimstätten Wil. Täglich arbeiten hier rund hundert Kunstschaffende in den Sparten Musik, Theater, Kunst- und Medien, Keramik, Papier, Glas, Holz. 2019 erhielt das Living Museum Wil den Kulturpreis der Stadt Wil.
Das lebendige Gestalten im Living Museum Wil wird in das Museum im Lagerhaus transferiert und das Museum temporäre Dependance des Ateliers. Die Kuntschaffenden selbst präsentieren in dieser «Living Exhibition» ihre Werke zum Thema «Tagträume», geben Einführungen und arbeiten vor Ort in der Ausstellung weiter. Im direkten Kontakt mit den Künstler*innen kann die Öffentlichkeit den work in progress begleiten und ist zum gemeinsamen Mitwirken eingeladen.
Rahmenprogramm:
Sonntag, 28. März 2021
Open Day
11 Uhr: Führung mit Willi Keller
14 Uhr: Führung zu Roland Schneider mit Luisa Bertolaccini, Leiterin Historisches Museum Olten
15.30 Uhr: Living Museum Wil mit der Living Session Band, Begrüssung CEO Niklaus Baumgartner, Psychiatrie St.Gallen Nord, und CEO Paul Schmid, Stiftung Heimstätten Wil
Mittwoch, 31. März, 28. April, 26. Mai, 30. Juni und 7. Juli, jeweils 14 – 16 Uhr
Philosophische Kunstbetrachtungen mit Mike Pemella
Max. 10 Personen, Anmeldung!
Donnerstag, 1. April und 27. Mai, jeweils 15 – 17 Uhr
Kunst-Vermittlungs-Workshops
mit Studierenden des Studienganges Art Education der ZHdK, Laura Antonieta Stiefel und Bella Tsokieva, zusammen mit Rahel Flückiger
Max. 8 Personen, Anmeldung!
Sonntag, 11. April, 11 Uhr
Artist Talk mit Sarah Bischof und Corina Schleuniger
Samstag, 17. April, 8. Mai und 5. Juni, jeweils 14 Uhr
Die Living Session Band unter Leitung des Wiler Musikers und «Ohm41»-Künstlers Renato Müller lädst zum Improvisieren ein
Max. 4 Personen, Anmeldung!
Sonntag, 18. April, 11 Uhr
Führung durch die Ausstellung «Durch die Linse» mit Willi Keller
Dienstag, 27. April, 18 Uhr
Artist Talk Dr. Rose Ehemann mit Antje Kruhl
Sonntag, 13. Juni, 15 Uhr
Kunst-Kaffee-Kuchen
Kunstkritiker Peter Killer stellt Zeichnungen von Willi Keller vor, die während der Zeit im Burghölzli entstanden sind
Sonntag, 20. Juni, 11 Uhr
Führung durch die Ausstellung «Durch die Linse»/Roland Schneider mit alt Nationalrätin Ruth Grossenbacher, Gründungspräsidentin des Archivs Olten für Fotografie am Jurasüdfuss
Sonntag, 11 Juli, 11 Uhr
Finissage
Mit Museumsleiterin Dr. Monika Jagfeld und Dr. Nicole Ottiger mit dem Living Museum Team
Ausstellungsführungen Living Museum Wil
Dienstag, 11. Mai, 18 Uhr: Literarische Führung mit Chefarzt PD Dr. Thomas Maier
Dienstag, 1. Juni, 18 Uhr: mit Daniel Schwarz
Dienstag, 29. Juni, 18 Uhr: mit Simon Schait
Weitere Ausstellungsführungen
Dienstag, 20. April, 28. Mai und 29. Juni, je 18 Uhr
Covid-19-bedingte Programmänderungen vorbehalten. Aktuelle Informationen:
Kontakt:
Anna-Maria Pfab
Kommunikation
anna-maria.pfab@museumimlagerhaus.ch
Pressetext und –bilder:
http://www.museumimlagerhaus.ch/service/presse/
Öffnungszeiten:
Di bis Fr 14–18 Uhr
Sa / So / Feiertage 12–17 Uhr
geschlossen: Karfreitag
Mit freundlicher Unterstützung von:
Kanton St. Gallen Kulturförderung Swisslos
Stadt. St. Gallen
Kulturförderung Appenzell Ausserrhoden
SOkultur Lotteriefonds Kanton Solothurn
HAUS DER MUSEEN Historisches Museum Olten
Psychiatrie St. Gallen Nord
Stiftung Heimstätten Wil
Museum im Lagerhaus Davidstrasse 44 9000 St.Gallen Schweiz