Medienmitteilung
SNF: Erziehungsstil beeinflusst die kindliche Entwicklung
massgeblich
2006-05-23T09:00:00
Bern (ots) - Autoritäre Erziehung kann schulische Leistungen
beeinträchtigen Heute gehört es zum guten Ton, den Grund für
Schulschwierigkeiten oder aggressives Verhalten von Kindern in der
elterlichen Nachlässigkeit zu sehen und die Rückkehr zu strengeren
Erziehungsformen zu propagieren. Im Rahmen des Nationalen
Forschungsprogramms «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen
im gesellschaftlichen Wandel» (NFP 52) haben Professor Alain
Clémence und sein Team von der Fakultät des sciences sociales et
pédagogiques an der Universität Lausanne eine Studie durchgeführt,
die eine andere Realität aufzeigt. Sie belegt, dass sich Autorität
in der Familie negativ auf die schulischen Leistungen und die
Selbstachtung der Kinder auswirken können. «Angesichts der gegenwärtigen Diskussionen über die
Nachlässigkeit der Eltern wollten wir wissen, was tatsächlich in
den heutigen Familien in der Westschweiz geschieht», bemerkt Alain
Clémence. «Wir haben zwei Ziele verfolgt: Zunächst wollten wir die
Art der elterlichen Autoritätsausübung im Alltag in Erfahrung
bringen, um dann in einem zweiten Schritt die Auswirkungen der
verschiedenen Praktiken auf die Leistungen in der Schule und das
Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen ermitteln zu können.» Hierfür wurden 500 Schülerinnen und Schüler im Alter von 12 bis
15 Jahren in Cossonay (VD), Bex (VD) und Delsberg (JU) befragt,
drei Orte, die den Forschern aufgrund ihrer ausreichend
durchmischten Bevölkerung eine Verallgemeinerung der Resultate
erlauben. Vervollständigt wurden die schriftlichen Fragebogen
anschliessend durch Gespräche mit 26 Lehrkräften und Eltern von
ungefähr 100 Schülern. Es fiel auf, dass die autoritative Erziehung, bei der die
Kinder an familiären Entscheidungen mitwirken, in den Westschweizer
Familien weit verbreitet zu sein scheint. «Dieser erste Eindruck
wird dadurch verstärkt, dass diese spezifische Art Autorität
auszuüben, als einzige in fast einem Drittel der Familien
praktiziert wird», präzisiert der Professor für Sozialpsychologie.
Das autoritäre Erziehungsmodell, das auf einseitigem Gehorsam und
der Unterordnung der Kinder basiert, ist hingegen weit weniger
verbreitet. Und was die heutzutage verpönte antiautoritäre
Erziehungsmethode betrifft, in welchem den Kindern ihre Erziehung
gewissermassen selbst auferlegt wird, spielt gemäss den Aussagen
der Jugendlichen eine Nebenrolle und ist den Eltern zufolge sogar
höchst selten anzutreffen. Grössere Selbstachtung, bessere Integration
Nachdem die zu untersuchenden Erziehungsmodelle festgesetzt waren,
interessierten sich die Forscher für deren Auswirkungen auf das
Verhalten, die schulischen Leistungen und ganz allgemein auf die
Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Und gerade hier
stiessen sie auf sehr erstaunliche Resultate. Es wurde deutlich,
dass sowohl die schulische Integration als auch die Selbstachtung
der Kinder steigt, wenn die Eltern sie bei Entscheidungen
miteinbeziehen - dies unabhängig vom sozioprofessionellen Niveau
der Eltern, der Sprache oder der familiären Situation
(traditionelle Familie, Alleinerziehende oder Patchwork-Familie).
Umgekehrt ist die Selbstachtung geringer, wenn die elterliche
Autorität einseitig ausgeübt wird, also wenn Eltern ihre Kinder
wenig oder gar nicht an Entscheidungen teilhaben lassen und sie
streng überwachen. Dieser negative Effekt zeigt sich bei den
jüngsten Schülern am deutlichsten. Das gleiche gilt für die Leistungen in der Schule. Für deren
Auswertung bezogen sich die Forscher bei den 12-jährigen auf die
Notendurchschnitte in Mathematik und Französisch und bei den 15-
jährigen auf den allgemeinen Lernstoff. Ihre Studie zeigt auch hier
unmissverständlich, dass die Leistungen besser sind, wenn das
Erziehungsmodell auf aktiver Teilnahme und Mitwirkung gründet und
nicht auf unabdingbaren Gehorsam abstellt. «Es ist bekannt, dass
der schulische Erfolg weitgehend von der sozialen Herkunft abhängt,
was unsere Forschung im übrigen bestätigt», stellt Alain Clémence
fest. «Aber der Einfluss des jeweiligen Erziehungsmodells
hinterlässt deutliche Spuren. Im Gegensatz dazu sind die
Auswirkungen der Sprache im Elternhaus oder der familiären
Situation auf die Schulleistungen gering.» Wenn auch die schulischen Leistungen in jedem Fall besser
ausfallen, wenn die Eltern ein partnerschaftliches Erziehungsmodell
anwenden, so hebt die Studie gleichwohl die Unterschiede zwischen
den Geschlechtern und den verschiedenen Schulstufen hervor. Der
günstige Einfluss der auf Mitwirkung basierenden Erziehung ist
demnach bei den Knaben sowie den 12-jährigen Schülerinnen am
grössten, der negative Einfluss einer autoritären Erziehung ist bei
den 15-jährigen am stärksten spürbar, und die negativen
Auswirkungen eines «Laisser-faire»-Erziehungsstils fallen bei den
Mädchen und grundsätzlich gegen Ende der Schulzeit am meisten ins
Gewicht. Keinesfalls mehr Strenge
Die Lausanner Forscher hoffen, mit ihrer Forschung, die dem Ruf
nach strengeren Eltern entgegensteht, einen Beitrag zur aktuellen
Debatte über Erziehung und Autoritätsausübung zu leisten. Sie haben
deshalb bereits eine Broschüre für Eltern veröffentlicht und
bereiten momentan die Publikation einer zweiten für Lehrkräfte
vor. «Wir sind keine Therapeuten, sondern Forscher. Sollten wir den
Eltern jedoch einen Rat geben, plädieren wir dafür, die Zügel nicht
zu sehr zu straffen», schliesst Alain Clémence. «Auch wenn das Kind
Erwartungen enttäuscht, sich widersetzt und die Diskussion ablehnt,
ist es wichtig, den Dialog aufrecht zu erhalten auch wenn das
nicht einfach ist.» Weitere Informationen:
Professor Alain Clémence
Institut des sciences sociales et pédagogiques
Université de Lausanne
Bâtiment Anthropole
CH-1015 Lausanne
Tel.: +41 (0)22 692 32 40
Tel.: +41 (0)21 692 32 30 (Sekretariat)
Fax: +41 (0)21 692 32 35
E-Mail: Alain.Clemence@unil.ch Der Text dieser Medienmitteilung steht auf der Website des
Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung:
www.snf.ch/medienmitteilung
Permalink:
https://www.presseportal.ch/de/pm/100002863/100510052
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