Medienmitteilung
Monitoring von Menschenfeindlichkeit und rechtsextremen
Einstellungen
2006-06-24T09:40:00
Bern (ots) - Wie menschenfeindlich ist die Schweiz? Im Nationalen Forschungsprogramm «Rechtsextremismus Ursachen
und Gegenmassnahmen» wurde ein Instrument entwickelt, mit dem sich
die Entwicklung von menschenfeindlichen Einstellungen und des
Rechtsextremismus in der Schweiz messen lässt. Resultat der ersten
Umfrage: Zwar haben über 50 Prozent der befragten Schweizerinnen
und Schweizer Vorurteile gegenüber Fremden, doch die Schweizer
Gesellschaft ist von Toleranz und vom Willen zur Integration
geprägt. 90 Prozent lehnen Rechtsextremismus klar ab. Rechtsextreme schlagen auf offener Strasse zwei jugendliche
Konzertbesucher spitalreif. Nachbarn wehren sich gegen den Bau
eines Minaretts. Dunkelhäutige Personen werden nicht in eine Disco
gelassen. Solche Ereignisse sorgen in der Schweiz immer wieder für
Schlagzeilen. Doch was steckt dahinter? Oder grundsätzlich gefragt:
Wie fremden- und menschenfeindlich ist die Schweiz? Eine Gruppe von Sozialwissenschaftlerinnen und
Sozialwissenschaftlern um Sandro Cattacin, Leiter des
soziologischen Instituts der Universität Genf, hat ein
wissenschaftliches Instrument entwickelt, mit dem das Potenzial von
rechtsextremen und menschenfeindlichen Tendenzen in der Schweiz
gemessen werden kann. «Das Monitoring-Instrument liefert
Informationen, wie sich der gesellschaftliche Zusammenhalt in der
Schweiz entwickelt», erklärt Cattacin. «Als Frühwarnsystem kann es Aufschluss über neue Tendenzen zur Ausgrenzung geben.» Das
Monitoring-Instrument ermöglicht es zudem, die schweizerische
Entwicklung mit jener anderer Länder zu vergleichen. Das Projekt
ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms «Rechtsextremismus
Ursachen und Gegenmassnahmen» (NFP 40+) des Schweizerischen
Nationalfonds. In gut 3000 mündlichen Interviews, die rund 40 Minuten dauerten
und rund 100 Fragen umfassten, wurden Daten über rechtsextremes
Gedankengut und über Einstellungen zu Minderheiten erhoben (siehe
Glossar). Um keine fremdenfeindlichen Äusserungen zu provozieren,
wurden negative Statements («Ausländer und Ausländerinnen erhöhen
die Arbeitslosigkeit in der Schweiz») gezielt mit positiven
Aussagen («Ausländer und Ausländerinnen werden auf dem Arbeitsmarkt
benachteiligt») kombiniert. Den Befragten standen vier
Möglichkeiten zur Verfügung, die Aussage abzulehnen oder
anzunehmen. Die Auswahl der Befragten ist repräsentativ, das
heisst, es wurden entsprechend ihrem Anteil an der
Gesamtbevölkerung auch Migrantinnen und Migranten befragt. Bei der Auswertung der Fragen konnten Sandro Cattacin und seine
Mitforschenden vier grössere Gruppen ausmachen, die total 85
Prozent der Schweizer Bevölkerung umfassen: Die «kreative Klasse» (37 Prozent) ist gegen jede Art von
fremden- und menschenfeindlicher Einstellung. Ihre Angehörigen
stehen politisch links, sind urban, gebildet und eher jung. In der zweitgrössten Gruppe, den «konservativen Nationalisten»
(23 Prozent), dominieren klar menschen- und fremdenfeindliche
Einstellungen. Die Angehörigen dieser Gruppe stehen politisch
rechts, sind meist weniger gut gebildet und betrachten die Zukunft
des Landes mit Sorge. Die «liberalen Unternehmer» (16 Prozent) setzen sich zwar
ebenfalls aus Personen zusammen, die Angst vor Fremden haben. Sie
akzeptieren jedoch Verschiedenheit und sind nicht
menschenfeindlich. Sie sprechen sich für Recht und Ordnung aus,
stehen politisch moderat rechts und vertrauen auf die Kräfte des
freien Marktes. Als vierte Gruppe identifiziert die Studie
die «desorientierten Traditionalisten» (9 Prozent). Wie in der
zweiten Gruppe dominieren auch hier fremden- und menschenfeindliche
Einstellungen. Ihre Angehörigen lassen sich aber politisch nicht
festlegen, haben Angst vor der Zukunft und sehen in der Gewalt ein
Mittel zur Lösung von Problemen. Bei dieser letzten Gruppe sieht Sandro Cattacin am ehesten ein
Potenzial für Probleme: Es seien Menschen, die sich sozusagen von
der Gesellschaft verabschiedet hätten und in einer eigenen Welt
lebten. Als «leicht beunruhigend» bezeichnet er auch die
«konservativen Nationalisten», die Gewalt zumindest teilweise
akzeptieren: «Es sind Leute, die zwar in der Gesellschaft noch
mitspielen, die sich von ihrer Werthaltung her aber weit vom
normalen Weg der Problemlösung entfernt haben.» Ihnen gegenüber
stehen die «kreative Klasse» und die «liberalen Unternehmer», die
eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ausmachen: «Sie sind
zentral für die Zukunft einer offenen, zukunftsorientierten
Schweiz, die Unterschiede akzeptiert und gegen Menschenhass
einsteht.» Es gibt weitere Ergebnisse, die Cattacin beunruhigend findet. So
können immerhin 3,8 Prozent der Bevölkerung dem rechtsextremen
Umfeld zugeordnet werden. Dazu kommt, dass fast ein Viertel der
Befragten antisemitisch eingestellt sind, was der Genfer Soziologe
als Spätfolge der Raubgold-Debatte interpretiert. Ausserdem kann
mehr als die Hälfte der Befragten als fremdenfeindlich bezeichnet
werden. Tolerante Haltung überwiegt Doch Cattacin malt nicht schwarz:
Unter dem Strich überwiege die Toleranz, betont er. So lehnen 90
Prozent der Befragten Rechtsextremismus ausdrücklich ab, 85 Prozent
sind für die strafrechtliche Verfolgung von rassistischer Hetze, 90
Prozent wollen die Chancengleichheit in der Gesellschaft
verbessern, 77 Prozent sind für die bessere Integration von
Minderheiten in den politischen Prozess und 55 Prozent für eine
erleichterte Einbürgerung. «In dieser toleranten Haltung zeigt sich
die grosse Stabilität unseres Landes», so Cattacin. «Im Unterschied
zu Deutschland oder Frankreich befindet sich die schweizerische
Gesellschaft nicht in einer akuten Wertkrise, die auch zu
unkontrollierter Gewalt gewichtiger Gruppen führen kann.» Die Frage
sei allerdings, was geschehe, wenn sich das politische Klima
verschärfe und der Trend zum Populismus anhalte. «Die Vorurteile in
der Bevölkerung lassen sich mobilisieren. Die Politik besitzt hier
eine grosse Verantwortung.» Sandro Cattacin schlägt vor, die Umfrage etwa alle zwei Jahre zu
wiederholen. Das Monitoring-Instrument würde dabei ähnlich
eingesetzt wie heute die Vox-Analysen von Abstimmungsresultaten: Im
Turnus würden die soziologischen Institute verschiedener Schweizer
Universitäten die Daten erheben und sie um aktuelle Fragestellungen
ergänzen. Glossar Menschenhass (Misanthropie): Ablehnung bestimmter
Gruppen von Menschen, oft Minderheiten. In der Studie wurde die
Einstellung gegenüber Behinderten, Frauen (Sexismus),
Homosexuellen, Juden (Antisemitismus), Muslimen und Obdachlosen
untersucht. Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie): Angst vor, resp. Ablehnung
von Migrantinnen und Migranten. Rechtsextremismus: Sammelbegriff für politische Einstellungen,
die einen Staat mit autoritärer Führung und kulturell einheitlicher
Bevölkerung anstreben und die Gewalt als legitimes politisches
Mittel betrachten. Publikation
Cattacin, Sandro, Brigitta Gerber, Massimo Sardi und Robert Wegener
(2006). Monitoring rightwing extremist attitudes, xenophobia and
misanthropy in Switzerland. An explorative study. Research report
PNR 40+, Sociological Research. Report No 1 of the Department of
sociology. Geneva: University of Geneva. / www.unige.ch/ses/socio Weitere Auskünfte
Prof. Sandro Cattacin
Département de sociologie
Université de Genève
40, bd du Pont d'Arve
CH-1211 Genève 4
Tel. +41 (0)22 379 83 16 / +41 (0)79 436 75 26
E-Mail: Sandro.Cattacin@socio.unige.ch
Permalink:
https://www.presseportal.ch/de/pm/100002863/100511783
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