Medienmitteilung
SNF: Organspende: Eigenverantwortung in der Deutschschweiz,
Gemeinschaftssinn im Tessin
2006-07-26T09:00:00
Bern (ots) - Unterschiedliche Organspenderaten in den
Sprachregionen haben kulturelle Gründe Im Tessin werden dreimal so viele Organe gespendet wie in der
Deutschschweiz. Dies liegt nicht am unterschiedlichen
Informationsstand der Landesteile, sondern hat kulturelle Gründe:
In der Deutschschweiz wird Individualismus und Eigenverantwortung
gross geschrieben, im Tessin ist die Gemeinschaft wichtig. Die
Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Implantate und
Transplantate» zeigt auf, wie sich kulturelle Unterschiede auf das
Gesundheitswesen auswirken. In der Schweiz herrscht akuter Organmangel: 1159 Personen
standen 2005 auf der Warteliste für eine Transplantation, doch nur
413 von ihnen erhielten in diesem Jahr ein Organ, 38 Menschen
starben. Die so genannte Spenderrate lag bei 12 Spendern pro
Million Einwohner. Aufgeschlüsselt nach den drei Landesteilen
zeigen sich grosse Unterschiede: In der Deutschschweiz liegt die
Rate bei 11 Spendern, in der Romandie bei 16, im Tessin bei 35.
Damit befindet sich das Tessin nur wenig hinter Spanien, das in
Europa mit einer Rate von 39 Spendern pro Million Einwohner die
Spitzenposition einnimmt. Ein Team von Kommunikationswissenschaftlern um Peter J. Schulz
vom Health Care Communication Laboratory der Universität Lugano hat
im Nationalen Forschungsprogramm «Implantate und Transplantate»
(NFP 46) nach den Gründen für diese Unterschiede gesucht. Basis für
die Studie bildet eine repräsentative Umfrage unter 1500 Personen
aus allen drei Sprachregionen. «Die Ergebnisse haben uns
überrascht», erklärt Schulz. Bisher ging man nämlich davon aus,
dass die hohe Tessiner Spenderrate vor allem mit der guten
Überzeugungsarbeit der dortigen Ärzteschaft zu tun hat. Die Studie
zeigt nun, dass es zusätzliche, tiefere Gründe gibt. Als relevanter
Faktor konnten in der Umfrage nämlich die kulturellen Unterschiede
zwischen den Landesteilen isoliert werden. Deutlich wurde dies vor
allem bei Aussagen über Gesellschaft und Moral sowie über die
Einstellungen zu Leben und Tod. Dabei zeigten sich folgende
Unterschiede: In der Deutschschweiz ist die Bevölkerung zwar am besten über
die Organspende informiert, doch sie ist zur Organspende weniger
positiv eingestellt als die anderen beiden Landesteile. So haben
nur 13.1 Prozent einen Organspenderausweis, und die Bereitschaft,
Organe zu spenden ist mit 53.4 Prozent deutlich tiefer als in der
Romandie. Peter J. Schulz erklärt dies damit, dass in
Gesundheitsfragen Eigenverant-wortung und Individualismus für
überdurchschnittlich viele der Befragten eine wichtige Rolle
spielen. So hängt die Gesundheit für Deutschschweizer stärker vom
eigenen Verhalten und weniger vom Alter und vom Stress ab als für
Romands und Tessiner. Ferner sind in der Deutschschweiz emotionale
Vorbehalte gegenüber der Organspende wesentlich stärker ausgeprägt.
Beispielsweise war die Befürchtung, mit einem Organspenderausweis
medizinisch weniger gut behandelt zu werden, in der Deutschschweiz
deutlich stärker verbreitet als in der Romandie und im Tessin. Im Tessin ist das Wissen über Transplantationen geringer als in
den anderen Landesteilen. Überraschenderweise haben nur 15.7
Prozent der Befragten einen Organspenderausweis, kaum mehr als in
der Deutschschweiz. Die Bereitschaft, Organe zu spenden, ist mit
50.4 Prozent sogar tiefer. Eine Erklärung für die tiefe
Spendebereitschaft könnte sein, dass relativ viele aussagten, der
Gedanke an eine Organspende erinnere sie an den Tod und mache
deshalb Angst. Anderseits gaben überdurchschnittlich viele Befragte
an, sie hätten das Bedürfnis, sich gegen Notfälle abzusichern und
zwar nicht einfach jeder auf eigene Faust sondern auch gegenseitig.
Diese Bereitschaft, sich in der Not beizustehen, sei eine wichtige
Voraussetzung für die hohe Spenderrate, folgern die Forschenden. Eine Mittelposition nimmt die Romandie ein. Hier haben zwar am
meisten Leute einen Organspenderausweis (23.1 Prozent) und 71.9
Prozent wären bereit, Organe zu spenden. Trotzdem ist das Wissen
über die Organtransplantation nicht so gross wie in der
Deutschschweiz, und Information übt einen nachweisbar positiven
Einfluss auf die Spendebereitschaft aus. Wichtig sind in der
Westschweiz aber auch soziale Kontakte und positive emotionale
Einstellungen. Die Romands scheinen ihre Entscheide über eine
Organspende also am ausgewogensten zu fällen. Landesteile unterschiedlich ansprechen
Bisher gab es im Bereich der Gesundheitskommunikation keine
Untersuchungen zur kulturellen Mikro-Diversität zwischen den
Landesteilen, wie Peter J. Schulz das Phänomen nennt. Entsprechend
interessant sind seine Ergebnisse für künftige
Informationskampagnen zur Organspende. «Es gibt in der Schweiz ein
hohes Potenzial an Personen, die bereit wären, Organe zu
spenden», erklärt Schulz, «doch man muss diese Leute je nach
Landesteil unterschiedlich ansprechen.» Am geeignetsten für klassische Kampagnen, die auf Aufklärung und
Information beruhen, ist demnach die Romandie. Im Tessin dagegen
würden solche Bemühungen verpuffen. Schulz empfiehlt deshalb für
die Südschweiz lokale, community-basierte Programme. In der
Deutschschweiz könnte laut Schulz das zwanglose Gespräch beim
Hausarzt den grössten Effekt haben. Ausserdem empfiehlt er, mit
gezielten Informationskampagnen das Unbehagen der Deutschschweizer
gegenüber Organspenden anzusprechen. Mit dem neuen Transplantationsgesetz, das Anfang 2007 in Kraft
tritt, wird das Bundesamt für Gesundheit für die Information der
Bevölkerung zuständig sein. Ein entsprechendes Informationsportal
wird laut BAG zurzeit aufgebaut. Publikation Peter J. Schulz, Kent Nakamoto, David Brinberg und
Joachim Haes, More than Nation and Knowledge: Cultural
Micro-Diversity and Organ Donation in Switzerland, Patient
Education
and Counseling (erscheint demnächst). Weitere Auskünfte:
Prof. Dr. Peter J. Schulz
University of Lugano, Faculty of Communication Sciences
Health Care Communication Laboratory
Via G. Buffi 13 , CH- 6900 Lugano
Tel: +41 (0)58 666 47 24
Fax: +41 (0)58 666 46 47
E-Mail: schulzp@lu.unisi.ch
www.hcc-lab.org Der Text dieser Medienmitteilung steht auf der Website des
Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung:
www.snf.ch/medienmitteilung
Permalink:
https://www.presseportal.ch/de/pm/100002863/100513346
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