Medienmitteilung
SNF: Das Schweizer Bürgerrecht von 1874 bis in die Gegenwart
2006-12-20T07:50:00
Bern (ots) - Rechtsstaatliches Verfahren oder politischer
Entscheid? Die Einbürgerungspolitik der Schweiz gilt als eine der
restriktivsten in Europa. Eine Forschungsgruppe der Universität
Bern hat die Aufnahme- und Ausschlusskriterien des Schweizer
Bürgerrechts aus historischer Perspektive untersucht. Dabei zeigte
sich, dass Einbürgerung immer auch ein Mittel zur Austragung
gesellschaftlicher und politischer Interessenkonflikte war. Die vom
Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Studie legt aber auch
dar, welche Schlüsse sich daraus für die Gegenwart ziehen lassen. Zwölf Jahre muss eine Ausländerin oder ein Ausländer in der
Schweiz wohnen, bevor ein Antrag auf Einbürgerung möglich ist. In
der EU dauern diese Fristen zwischen vier und zehn Jahren.
Ausserdem ist im Unterschied zur Schweiz in den meisten EU-Staaten
eine erleichterte Einbürgerung für die zweite Ausländergeneration
möglich. Als weiterer Sonderfall gilt, dass Einbürgerungsentscheide
hierzulande in erster Linie auf Gemeindeebene gefällt werden. Mehr
als ein Fünftel der schweizerischen Bevölkerung hat denn auch kein
Schweizer Bürgerrecht und damit auf nationaler Ebene keine
politischen Rechte. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Eine Gruppe von
Historikerinnen und Historikern der Universität Bern die Aufnahme-
und Ausschlusskriterien des Schweizer Bürgerrechts zwischen 1874
und der Gegenwart untersucht. Diese bislang umfassendste
historische Studie zur schweizerischen Einbürgerungspraxis ist Teil
des Nationalen Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss»
(NFP 51). Berücksichtigt wurden die Bundes-, die Kantons- und die
Gemeindeebene, wobei die Städte Basel, Bern und Genf vertieft
untersucht wurden. Zusammenfassend lässt sich für die Einbürgerungspraxis und -
diskussion in der Schweiz eine Entwicklung von liberalen Anfängen
bis zum Ersten Weltkrieg über sechs zunehmend restriktive
Jahrzehnte bis Ende der 70er-Jahre zu einer wieder liberaleren
Gegenwart feststellen. Hinter den Einbürgerungskriterien und ihrem
Wandel stehen die gesellschaftlichen Selbstbilder und Normen der
Schweiz, wie Projektleiterin Brigitte Studer feststellt. Dazu
zählen Anstand, Fleiss, politische Zurückhaltung und ein guter
Leumund. Aufzeigen lassen sich zudem gesellschaftlich-politische
Interessenkonflikte, wie die Wahrung der «Volksgesundheit» in der
Zwischenkriegszeit oder die Angst vor einer Unterwanderung der
Gesellschaft durch Kommunisten im Kalten Krieg. Damit wird die
Einbürgerung auch zu einem Instrument, um mit solchen Problemen
umzugehen. Als Beispiele erwähnt Studer die Ablehnung ökonomisch
schlecht gestellter Personen aus Angst vor Fürsorgekosten oder die
Regulierung des Arbeitsmarkts mit Gastarbeitern. Die Entwicklung der schweizerischen Einbürgerspolitik kann in
fünf Phasen aufgeteilt werden: - 1848 bis 1874: Mit der Gründung des Bundesstaats von 1848 wird in
der Schweiz das Prinzip des dreistufigen Bürgerrechts auf Gemeinde-
, Kantons und Bundesebene etabliert. Die Kompetenz, die
Einbürgerung gesetzlich zu regeln, erhält der Bund erst mit der
Verfassungsrevision von 1874. Die Wohnsitzfrist zum Erwerb der
Staatsbürgerschaft wird auf zwei Jahre gesetzt.
- 1874 bis 1898: Bilaterale Verträge sorgen dafür, dass man
sich in Europa frei in einem anderen Land niederlassen kann. Die
Überlegung, dass Ausländer ein Problem sein können, taucht in den
Quellen erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts auf.
- 1898 bis 1933: Diese Zeit gilt als Schlüsselperiode der
schweizerischen Ausländerpolitik. Während liberale Kreise
argumentieren, es schade dem Staat, wenn Teile der Gesellschaft
keine politischen Rechte haben, sehen konservativ-nationalistische
Kreise die Einbürgerung als Gefahr. Diese Strömung setzt sich nach
dem Ersten Weltkrieg durch. Im Bundesgesetz über Aufenthalt und
Niederlassung von Ausländern, das 1934 in Kraft tritt, wird der
Grad der «Überfremdung» als Mass für die Zulassung von Ausländern
definiert.
- 1934 bis Ende der 1970er-Jahre: Im Zweiten Weltkrieg wird die
Ausländerpolitik noch restriktiver. Neu ist sogar die Ausbürgerung
von Schweizern möglich; sie wird während des Krieges in 138 Fällen
vollzogen. Der harte Kurs in der Einbürgerung bleibt nach dem Krieg
bestehen. Im Bundesgesetz über den Erwerb und Verlust des
Schweizerbürgerrechts von 1952 hebt man die Wohnsitzfrist auf zwölf
Jahre an, und es wird eine Eignungsprüfung eingeführt.
- 1980er-Jahre bis zur Gegenwart: Seit Ende der 1980er-Jahre
erhalten Liberalisierungsversuche wieder mehr Gewicht. So wird 1992
die doppelte Staatsbürgerschaft anerkannt, oder ausländische
Ehepartner erhalten die Möglichkeit, sich erleichtert einbürgern zu
lassen. Für Brigitte Studer und Ko-Autor Gérald Arlettaz ergeben sich
aus dem Studium der Einbürgerungsdossiers und der weiteren
historischen Quellen verschiedene Erkenntnisse für die Gegenwart.
Vor allem die Erkenntnis, dass die von den Einbürgerungskandidaten
geforderte Anpassung beziehungsweise Assimilation im letzten
Jahrhundert sehr uneinheitlich, zuweilen auch willkürlich,
gehandhabt wurde. Die Autoren empfehlen daher, die Einbürgerung als
rechtsstaatliches Verfahren zu objektivieren: «Für ein Gesuch
sollten in der ganzen Schweiz die gleichen, klaren Voraussetzungen
gelten.» Denn die heutigen Praktiken gründen auf der historischen
Rolle der Gemeinden und Kantone bei der Aufnahme ins Bürgerrecht.
Diese Praktiken gehen auf die Alte Eidgenossenschaft zurück und
entsprachen damals lokalen Verwaltungs- und Selektionsbedürfnissen
der Bevölkerung. «Heute, im Zeitalter der Mobilität, sind solch
partikuläre Interessen, die zu subjektiven oder gar arbiträren
Entscheidungen führen können, nicht mehr adäquat,» sagt Brigitte
Studer. «Die lokalen Selektionsmöglichkeiten entsprechen den
Integrationsbedürfnissen der Schweiz nicht mehr.» Ausserdem regen
die Autoren an, die Entscheidungskompetenz von der Gemeinde- auf
die Kantonsebene zu verlagern, so wie es heute in Genf bereits
praktiziert wird, und die Wohnsitzfrist auf ein im Vergleich mit
der EU angemessenes Mass zu reduzieren. Für weitere Informationen:
Prof. Dr. Brigitte Studer
Universität Bern, Historisches Institut
Länggassstrasse 49, CH-3000 Bern 9
Tel. +41 (0)031 631 39 45 oder +41 (0)031 631 80 91
E-Mail: Brigitte.Studer@hist.unibe.ch Publikation (in Vorbereitung): Brigitte Studer, Gérald Arlettaz:
Staatsbürgerschaft zwischen Konzepten des Nationalen und Ordnung
des Sozialen: Aufnahme- und Ausschlusskriterien des
«Schweizerbürgerrechts» von 1874 bis zur Gegenwart, erscheint ca.
2008. Der Text dieser Medienmitteilung steht auf der Website des
Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung:
www.snf.ch/medienmitteilung
Permalink:
https://www.presseportal.ch/de/pm/100002863/100521888
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