Starre finanzielle Schwellenwerte im Gesundheitswesen ungeeignet
Zug/Bern (ots) -
In der Schweiz ist das Gesundheitswesen in den letzten Jahren stark gewachsen. Die Zahl der Ärzte, der Pflegenden und der Angehörigen weiterer Gesundheitsberufe hat markant zugenommen. Zudem hat eine Vielzahl technischer und pharmakologischer Entwicklungen dazu beigetragen, dass Prävention, Diagnose und Behandlung vieler akuter und chronischer Krankheiten und Leiden deutlich verbessert werden konnten. Das Gesundheitssystem ist damit immer erfolgreicher geworden. Heute ist es möglich, Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Schizophrenie gezielt und effizient zu behandeln. Anderseits erhöhen sich die eingesetzten personellen und finanziellen Mittel jedoch stark. Der Entscheid des Bundesgerichtes über die Vergütung eines Medikamentes zur Behandlung einer seltenen Krankheit hat neu die Frage aufgeworfen, ob es eine Obergrenze gibt, bis zu der eine Krankenversicherung die Kosten einer medizinischen Behandlung übernehmen muss. Vor diesem Hintergrund haben die Akademien der Wissenschaften Schweiz und vips Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz unabhängig voneinander Studien in Auftrag gegeben, welche wissenschaftlich fundierte Grundlagen für den Meinungsbildungsprozess über die Vergütung von medizinischen Leistungen bereitstellen sollen, ohne jedoch direkte Handlungsanweisungen für die Schweizer Verhältnisse anzubieten.
Erfahrungen im Ausland
Die Wissenschaftler vom Institute of Pharmaceutical Medicine (ECPM) der Universität Basel in Zusammenarbeit mit Partnerinstituten der Universität Zürich, und von Infras, Zürich, analysierten Methoden zur Bestimmung des Nutzens und Wertes medizinischer Leistungen und die wissenschaftliche Begründung von Schwellenwerten. Sie beleuchteten zudem die damit im In- und Ausland gemachten Erfahrungen. Dabei kamen sie zum Schluss, dass starre Schwellenwerte, wie sie das Bundesgericht im erwähnten Urteil angewandt hat, weder wissenschaftlich fundiert noch nachgewiesen wirksam sind. Sie bergen gemäss Aussagen der Studienleiter ein Diskriminierungspotenzial in sich und würden ethische und soziale Prinzipien verletzen. Alle Länder, die Schwellenwerte einsetzen, berücksichtigen zusätzliche ethische und soziale Entscheidungskriterien.
Wertediskussion unabdingbar
Beide Studiengruppen kamen zum Schluss, dass eine Wertediskussion erforderlich ist, um festzulegen, welche Leistungen im Rahmen der solidarisch finanzierten Krankenversicherung bezahlt werden sollen. Es müsse grundsätzlich geklärt werden, so Rolf Iten von Infras, ob die Notwendigkeit einer Rationierung besteht, wie die Mittel verteilt werden sollen, um den maximalen Nutzen für die Gesellschaft erreichen zu können, und welche Regeln für die Zuteilung der beschränkten Ressourcen im Gesundheitswesen daraus abgeleitet werden können. Matthias Schwenkglenks vom ECPM sieht angesichts der steigenden Kosten unmittelbaren Handlungsbedarf und plädiert für die rasche Einführung eines methodisch fundierten, breit abgestützten und effizienten Health-Technology-Assessments (HTA). Ein solches beurteilt medizinische Leistungen anhand ihres Nutzens und ihres Kosten-Nutzen-Verhältnisses, unter zusätzlicher Berücksichtigung ethischer, sozialer und juristischer Kriterien. Es soll die Werthaltungen der Schweizer Bevölkerung sowie die Präferenzen der Versicherten beachten und einen gerechten Zugang zu den medizinischen Leistungen für alle sicherstellen. Mit dem Swiss Medical Board besteht bereits heute eine Institution, die nach den erwähnten Ansätzen einige viel beachtete Analysen und Vorschläge publiziert hat.
Reformen sind politische Herausforderungen
Der frühere BAG-Direktor Thomas Zeltner wies in seinen Schlussfolgerungen zu den beiden Studien darauf hin, dass wir nicht darum herumkommen, die Debatte über Nutzen und Verteilgerechtigkeit im Gesundheitswesen vermehrt in die Öffentlichkeit und in die Politik zu tragen. Ziel soll dabei sein, das Vertrauen in das System und dessen Steuerbarkeit zu erhalten und zu stärken. Es geht aber auch darum, Akzeptanz für den Fakt zu schaffen, dass Knappheit ein mit der Medizin zusammenhängender Wesenszug ist. Und schliesslich soll bewusst gemacht werden, dass Reformen nicht technische, sondern eminent politische Fragen sind. Diese Debatten seien durch eine wissenschaftlich fundierte und evidenzbasierte Diskussion innerhalb des Kreises der Gesundheitsfachleute zu begleiten. Als nächsten wichtigen Schritt auf diesem Weg bezeichnet Zeltner die Diskussion um ein Nationales Institut für Qualität und Patientensicherheit.
Breit abgestützte Diskussion gefordert
Den Initianten beider Studien ist es wichtig, die Bevölkerung sowie alle Partner in der Patientenversorgung in eine breite Diskussion mit einzuschliessen; dazu gehören auch fundierte Betrachtungen zur Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit medizinischer Massnahmen. Nur so ist es möglich, mit den begrenzten Ressourcen in unserem Gesundheitssystem, besonders auch dem zunehmenden Mangel an medizinischem Fachpersonal, bestmöglich umzugehen.
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Die vips Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz wurde 1950 gegründet. Der Anteil ihrer Mitgliedfirmen am Pharmamarkt Schweiz beträgt rund 70%; die vips ist der grösste schweizerische Pharmaverband. Mitgliedfirmen der vips sind schweizerische Niederlassungen von ausländischen Pharmaunternehmen und produzierende Schweizer Pharmaunternehmen sowie Vertriebsgesellschaften. Ziel und Zweck der Vereinigung ist es, die Interessen ihrer Mitgliedfirmen zur Schaffung angemessener Rahmenbedingungen für deren Geschäftstätigkeit im politischen und wirtschaftlichen Umfeld zu vertreten, marktbezogene Dienstleistungen für die Mitgliedfirmen zu erbringen und den Dialog zwischen den vips-Mitgliedfirmen und den Branchenverbänden zu pflegen.
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