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Eröffnung der Schweizerischen Botschaft Berlin, Ansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger

Berlin/Bern (ots)

Liebe Gäste von fern und nah: Willkommen in Berlin!
Als Ureinwohner des Spreebogens, die wir hier während vieler Jahre
etwas vereinsamten, heissen wir Sie herzlich willkommen, auch das
Gebäude des Reichstages,  welches den Bundestag beherbergt, und auch
das neu zugezogene Amt des Bundeskanzlers. Wir sind  hier Häusle
bauende Nachbarn und hoffen weiterhin auf gute Beziehungen.
Wir sagen so leichtfertig "gutnachbarschaftliche Beziehungen",
doch wir wissen: Nicht alle Nachbarn vertragen sich "gut": Es kann
der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht
gefällt.
Nachbarn streiten sich über überhängende Bäume, gemeinsame
Gartenzäune und ärgern sich über den Lärm des andern, stamme er nun
von Rasenmähern, Motorrädern oder anderen Fortbewegungsmitteln.
Man regt sich schneller über den Nachbarn auf, als über sich
selbst. Es ist einfacher, mit dem Finger zu zeigen, als vor der
eigenen Türe zu kehren. Vor allem bauende Nachbarn haben es nicht
immer leicht miteinander.
Es ist ja auch ungerecht: Wir können, wenn wir zu Hause sind,
unsere eigene Hausfassade, auf die wir so stolz sind, selber gar
nicht sehen.
Aber der Nachbar, der sieht sie, und wir müssen die seine
anschauen. Wir sehen das Kanzleramt und der Kanzler sieht unsere
Botschaft. Zwei Schicksale, die uns mental stärken und verbinden.
Friedrich Dürrenmatt bezeichnete Deutschland in einem Aufsatz als
"den schwierigen Nachbarn". Dies ist jedoch keinesfalls die Schuld
der Deutschen. Dürrenmatt führt nämlich weiter aus: "Eigentlich ist
für die Schweiz jeder Nachbar schwierig. Eigentlich wäre sie am
liebsten eine Insel. " Diesen Zustand erlebte das Gebäude der
Schweizer Botschaft hier in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wahrlich, das ist kein wünschenswerter Zustand und wir freuen uns auf
das Näherrücken.
Nachbarschaft muss gelebt werden. Der kulturelle und menschliche
Austausch ist der beste Garant für Frieden, Demokratie und
Menschenrechte. Hier liegt das grosse kreative Potential
nachbarschaftlicher Beziehungen. Herausragende schweizerische
Schriftsteller haben in Deutschland wichtige Impulse für ihr Schaffen
erhalten: Ulrich Bräker, Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf und
Robert Walser. Letzterer sähe sich heute angesichts der Dimensionen
umliegender Gebäude in seiner Anrede, die er damals für Berlin
wählte, bestätigt: "Guten Tag Riesin".
Riesig" ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht passend für Berlin.
Berlin war und ist immer noch die grösste urbane Baustelle in Europa,
eine europäische Metropole mit globaler Ausstrahlung. Auch die
Schweiz leistet mit der Erweiterung der Botschaft einen baulichen
Beitrag. Auf eine Weise, die für den Umbau Berlins typisch ist.
Trotz einem schweren Erbe, das auf vielen Gebäuden lastet,
entschied man sich nicht zur tabula rasa. Dies taten die Baumeister
von Berlin nicht und wir taten es mit unserer Botschaft nicht.
Das nach dem Zweiten Weltkrieg auf den ersten Blick intakte
Botschaftsgebäude war zunächst ein Sinnbild dafür, dass die Schweiz
unversehrt davongekommen ist. Bei näherem Hinsehen zeigten sich aber
auch bei uns Einschüsse und Risse, welche teilweise und zeitweise
auch an unseren Grundfesten rüttelten.
Es ist der Fall der Berliner Mauer, der uns diese nähere
Betrachtung und gleichzeitig auch das heutige Zusammenrücken
ermöglichte.
Es wäre allzu einfach, alles niederzureissen und dann nach dem
Geschmack der Zeit etwas Neues hinzustellen. Viel anspruchsvoller und
heilsamer ist es, alte Bausubstanz und damit ihre wechselvolle
Geschichte zu akzeptieren, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Auf solchermassen gefestigtem Fundament erst lässt sich ein
stabiles Gebäude für die Zukunft errichten.
In diesem Sinne ist Berlin eine Baustelle, die ihre Vergangenheit
nicht verdrängt, sondern zu ihr steht, sich mit ihr auseinandersetzt.
Nur so kann sie eine Zukunft haben, in der vergangene Fehler nicht
wiederholt werden.
Das gilt auch für die politische Architektur Europas. Unser
Kontinent ist eine vielschichtige Baustelle, die ihre nationalen,
regionalen und urbanen Wurzeln berücksichtigt. Ob Berlin oder Oslo,
ob Paris oder Riga, Sarajewo, Belgrad, ob Brüssel oder Bern: überall
wird an Europa gebaut. Denn Europa besteht nicht nur aus der EU!
Gemeinsam bauen wir an diesem Europa. Wir pflegen verschiedene
Baustile mit verschiedenen Bausteinen, wir arbeiten auf verschiedenen
Bauplätzen, wir bauen um, an und neu, wir bauen verschieden schnell
und wir setzen verschiedene Masse.
Aber wir haben ein gemeinsames Ziel, einen Kontinent des Friedens
und der Sicherheit zu bauen.
So wenig wie die Schweiz eine Insel ist, so wenig kann Europa eine
Festung sein! Bei der blossen guten Nachbarschaft lassen wir es daher
nicht bewenden, denn, so Dürrenmatt, "jeder Nachbar ist wieder eines
anderen Nachbarn Nachbar".
Die Selbstverständlichkeit der guten Nachbarschaft zwischen der
Schweiz und Deutschland muss auch für Europa und alle Kontinente
gelten. Ein Staat überlebt nur, wenn er inneren Frieden und soziale
Gerechtigkeit schaffen kann. Dasselbe gilt zwischen Nachbarstaaten
und Staatengemeinschaften. Und es gilt zwangsläufig für den ganzen
Erdball.
Denn in Zeiten der Globalisierung ist Unfriede irgendwo in der
Welt auch unser Unfriede.
Unsere Nachbarschaft will daher nicht ein schlummerndes
Nebeneinander sein sondern ein aktives Miteinander für ein Europa und
für eine Welt der guten Nachbarschaft.
Es gilt das gesprochene Wort!

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