Sucht Schweiz / Addiction Suisse / Dipendenze Svizzera
Das Schweizer Suchtpanorama 2023
Das Parlament hält mit dem Volkswillen nicht Schritt
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Lausanne (ots)
EMBARGO Dienstag, 7. Februar 5.00 Uhr
Mit dem klaren Ja zur Initiative "Kinder ohne Tabak" hat die Bevölkerung gezeigt, dass sie genug von der Tabakwerbung hat, welche Jugendliche in die Sucht treibt. Und das Nein der Genossenschafterinnen und Genossenschafter zum Alkoholverkauf durch die Migros fiel ebenfalls sehr deutlich aus.
Die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Suchtmitteln wie Tabak und Alkohol wandelt sich und wird dem Marketing gegenüber kritischer. Doch im nationalen Parlament dominieren nach wie vor die Lobbies der Industrien. Sie verhindern den Volkswillen und verursachen damit Suchtprobleme.
Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung heute eine Regulierung des Cannabis jenseits des Verbotes will. Suchtmittel sollen gemäss den verursachten gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schäden reguliert und mit einer starken Prävention begleitet werden. Sucht Schweiz fordert die Politik im Wahljahr dazu auf, den Willen der Bevölkerung endlich ernst zu nehmen.
56.6 % der Bevölkerung stimmte vor einem Jahr dafür, sämtliche Tabakwerbung zu verbieten, die Kinder und Jugendliche erreicht. Für einen Teil der Parlamentsmehrheit mag dieser Ausgang überraschend gewesen sein, aber er hat sich angekündigt. In unterschiedlichen Bevölkerungsumfragen nahm der Anteil derjenigen, die sich für ein totales Werbeverbot für Tabakprodukte aussprachen, von 48 % (2012) auf 67 % (2020) kontinuierlich zu.
Auch der Durchsetzung des Alkoholverkaufs auf Autobahnraststätten war nicht ein Bedürfnis aus der Bevölkerung, sondern eine Interessenvertretung eines Anbieters vorausgegangen. Eine Umfrage der Beratungsstelle für Unfallverhütung zeigte, dass 82 % der Bevölkerung sich gegen die Ausweitung aussprachen. Dem Parlament waren wirtschaftliche Interessen allerdings näher.
Bei der Migros konnten die 2.2 Millionen Genossenschaftsmitglieder ihre Ansichten allerdings durchsetzen. Nachdem die meisten Direktionen und alle Genossenschafts- parlamente sich für den Alkoholverkauf ausgesprochen hatten, legte die Migros- Stimmbevölkerung mit einem Dreiviertelmehr ein wuchtiges Nein in die Urne. Sie haben damit klargemacht, dass Alkohol eben kein Produkt wie jedes andere ist.
Cannabis: Anpassung an die Entwicklung
Nachdem die Bevölkerung im Jahr 2008 eine Legalisierung des Cannabiskonsums noch mit 63 % abgelehnt hatte, scheint sich die Stimmung inzwischen gewandelt zu haben. Nach einer neuen Umfrage des Bundesamtes für Gesundheit sprachen sich im Jahr 2021 zwei Drittel der Befragten für eine Legalisierung mit starker Prävention aus.
Mit der Annahme von parlamentarischen Vorstössen zu Pilotversuchen und einer neuen Regulierung entspricht das Parlament dem Trend in der Bevölkerung. Bei einigen Parlamentsmitgliedern mögen aber auch wirtschaftliche Erwägungen und Aussichten auf neue Märkte eine Rolle spielen. Die Verhandlungen zu Regulierungsmodellen werden dazu Aufschluss geben.
Die Bevölkerung will Veränderung in der Suchtpolitik
Es scheint so, als dass die Bevölkerung mehr und mehr eine Regulierung der Substanzen nach den gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schäden wünscht und die heutigen Regulierungen diesbezüglich als nicht adäquat ansieht. Offenbar ist es für breite Schichten nicht nachvollziehbar, warum z.B. Alkohol fast schon grenzenlos vermarktet werden darf und Cannabis gleichzeitig verboten ist.
Konsequenterweise ist eine Kohärenz der Regulierungen anzustreben. Was das für die einzelnen Substanzen heissen mag, muss noch genauer definiert werden. Dabei sollte es das Ziel sein, Probleme im Zusammenhang mit dem Konsum von psychoaktiven Substanzen und Verhalten mit Suchtpotenzial zu vermindern sowie die öffentliche Gesundheit ins Zentrum zu stellen.
Strukturelle Prävention hat einen grossen Einfluss auf das Ausmass von Suchtpro- blemen. Im Wahljahr 2023 wird somit auch die Suchtpolitik zum Thema. Wählende, die sich für Suchtprobleme interessierten, sollten sicherstellen, dass sie ihre Stimme denjenigen Kandidierenden geben, die die Prävention ernst nehmen.
Das ganze Dossier in PDF findet sich im Anhang und kann hier heruntergeladen werden.
Das Wichtigste in Kürze:
Alkohol
Während die meisten Menschen ihren Konsum im Zuge der Covid-Pandemie nur wenig veränderten, ist bei gefährdeten Gruppen eine leichte Polarisierung des Verhaltens zu beobachten. Neue epidemiologische Daten zum Alkoholkonsum in der Schweiz werden erst mit der Veröffentlichung der Resultate der schweizerischen Gesundheitsbefragung im Verlauf des Jahres 2023 erhältlich sein.
Die Migros-Genossenschaftsmitglieder haben im Juni 2022 mit einer Dreiviertelmehrheit dem Alkoholverkauf in der Migros einen Riegel geschoben. Jugendliche haben allerdings anderswo zu leichten Zugang zum Alkohol: In 33.5 % der Testkäufe im Detailhandel und der Gastronomie sowie in gar 93.8 % der Testkäufe im Internet haben Jugendliche illegal Alkohol erhalten. Die Politik ist gefordert, nun endlich zu handeln. Die leichte Erhältlichkeit muss auch für Jugendliche gestoppt, die Preise erhöht und die allgegenwärtige Werbung reduziert werden.
Tabak
Nach der historischen Annahme der Initiative "Kinder ohne Tabak" hat das Ringen um die Umsetzung in Gesetz und Verordnungen begonnen. Die beteiligten Organisationen werden sicherstellen, dass der volle Jugendschutz gewährleistet wird. Denn elektronische Zigaretten wie Puff-Bars verbreiten sich unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ohne dass der Zigarettenkonsum abnimmt, und generieren eine weitere Gruppe von Nikotinabhängigen.
Mit der Preispolitik wird einer der effektivsten Hebel zur Eindämmung der schädlichen Nikotinprodukte in der Schweiz zu wenig genutzt. Das Tabaksteuergesetz muss nun nicht nur zur Einführung von konsequenten Steuern auf E-Zigaretten, sondern auch zur Erhöhung der Steuern auf klassischen Zigaretten revidiert werden.
Cannabis und andere Drogen
Um den Konsum illegaler Drogen in der Schweiz zu verstehen, fehlen aktuelle Daten. Die Behandlungsnachfrage bei Kokainproblemen hat allerdings in den letzten Jah- ren zugenommen, während sie bei Heroin abgenommen hat. Bei Cannabis ist die aktuelle Entwicklung unklar.
In der Politik dreht sich weiterhin fast alles um Cannabis. Vermehrt kommen konkrete Regulierungsvorschläge auf den Tisch. Auch Fragen zur Störung der öffentlichen Ordnung durch den Handel und den Konsum illegaler Drogen stehen regelmässig auf der politischen Agenda, wie zum Beispiel in Genf mit dem Crack-Kokain.
Psychoaktive Medikamente
Die Verkaufszahlen von potenziell abhängig machenden Schlaf- und Beruhigungs- mitteln sind relativ stabil, aber auf hohem Niveau. Die Pandemie hat aber zu Be- lastungen geführt, die von einigen auch jüngeren Menschen mit entsprechenden Medikamenten angegangen werden.
Die Steigerung der Verkäufe von starken opioidhaltigen Schmerzmitteln war erheblich, es scheint aber, dass nun ein Plafond erreicht worden ist. Verbreitete Suchtprobleme sind zwar nicht bekannt, aber das Fehlen von regelmässigen Daten zu Verschreibungen und Suchtproblemen ist beunruhigend.
Der Medikamenten-Mischkonsum ist wegen Todesfällen unter jungen Menschen ins Rampenlicht gerückt, und weitere Umfragen zeigen eine erhebliche Verbreitung. Erste Resultate von vertieften Untersuchungen zeigen detaillierten Handlungsbedarf.
Glücks- und Geldspiel
Der zwischen 2020 und 2021 um 25 % steigende Online-Umsatz hat den Einnahmen- rückgang bei den landbasierten Spielbanken während der Pandemie kompensiert. Die Anzahl neuer Spielsperren stieg erneut um 19 % gegenüber dem Vorjahr.
Seit gut drei Jahren sind die stärker suchtgenerierenden Online-Casinos in der Schweiz zulässig. Da drängt sich die Frage auf, ob das neue Gesetz einen ausreichenden Schutz der Spieler und Spielerinnen bietet. Sucht Schweiz ortet einige Verbesserungsmöglichkeiten, damit gefährdete Spieler und Spielerinnen sich nicht weiter überschulden und in eine Sucht abrutschen. Dazu zählen die Stärkung der Aufsichtsbehörden und ein wirksames Playertracking.
Online-Aktivitäten
Seit 2019 enthält die internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) die diagnostische Kategorie "Disorders due to addictive behaviours" und erwähnt explizit die Videospiel-Nutzungsstörung sowie die Glücks- und Geldspielnutzungsstörung. Die Grenzen zwischen den beiden Aktivitäten sind allerdings fliessend geworden. Die international geschätzte Prävalenz der Videospiel-Nutzungsstörung bei den Jugendlichen schwankt zwischen 0.5 % und 5 %. Um die Risiken zu vermindern, braucht es viel Sensibilisierung und gezielte Regulierung. Sucht Schweiz ortet bei den Kaufsystemen in Videospielen Handlungsbedarf.
Pressekontakt:
Markus Meury
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