Discours Suisse - Behinderte Kinder im Schulunterricht: Das Tessiner Modell setzt voll auf die Integration
Lugano (sda/ots) -
In keinem anderen Kanton besuchen derart viele behinderte Kinder den normalen Schulunterricht wie im Tessin. Das vor über dreissig Jahren geschaffene Modell der differenzierten Integration hat sich bewährt - und längst Nachahmer gefunden.
Um das Tessiner Modell zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück. Bis zur grossen Schulreform von 1975 hatte der Südkanton praktisch nichts für behinderte Kinder unternommen.
Dies lag zum einen daran, dass es zu wenig behinderte Schüler gab. Die Schaffung von spezialisierten Instituten lohnte sich deshalb nicht. Zudem fehlte im ehemaligen Armenhaus der Schweiz das Geld für spezielle Fördermassnahmen.
Eltern, die es sich leisten konnten, schickten ihr behindertes Kind deshalb in Heime in der Deutschschweiz oder in Italien. Alle anderen seien "mehr schlecht als recht" durch die normale Schule gekommen, erinnert sich Giorgio Merzaghi, der beim Kanton für die Sonderpädagogik zuständig ist.
Als Italien anfangs der 1970er Jahre die Heime schloss und alle behinderten Kinder in die reguläre Schule zu integrieren begann, hatte dies auch Auswirkungen auf das Tessin. Im Südkanton setzte man aber nicht auf eine totale, sondern auf eine differenzierte Integration.
Hoher Aufwand
Heute besuchen rund 60 Kinder mit Behinderungen eine Regelklasse. Die meisten von ihnen haben Seh-, Hör- oder Gehprobleme. Darüber hinaus bemüht sich der Kanton, auch jene Schüler mit Lernschwierigkeiten in den Regelklassen zu behalten, die man in anderen Kantonen bis vor kurzem in Klein- oder Sonderklassen zu unterrichten pflegte.
Dafür treiben die Schulen im Kanton Tessin einen hohen Aufwand. So beschäftigen sie regionale Teams von Sonderpädagogen, die gezielte Unterstützung leisten. Auf Vollzeitstellen umgerechnet, handelt es sich für die ganze obligatorische Schule um rund 170 Personen.
Ganz ohne Sonderschule geht es aber auch im Tessin nicht. Etwa 450 Kinder besuchen derzeit spezielle Klassen. Diese werden im gleichen Schulhaus geführt wie die Regelklassen. Das erlaubt eine Durchmischung bei gewissen Projekten und auf dem Pausenplatz.
So könne zum Beispiel ein Schüler mit psychischen Problemen im Turnunterricht einer Regelklasse mitmachen, sagt Merzaghi. Da es sich nicht um eine vollständige Integration handelt, wird das Tessiner Modell als "differenzierte Integration" bezeichnet.
Erziehungsdirektor Gabriele Gendotti (FDP) attestiert seinem Kanton in der Fachzeitschrift "Insieme" eine nationale Vorreiterrolle in Sachen Integration von Behinderten.
Merzaghi teilt diese Einschätzung. Gleichzeitig betont er, dass "andere Kantone wie etwa Wallis, Waadt und Freiburg uns eingeholt haben".
Modell stösst an Grenzen
Die Sparübungen der Kantonsregierung hat sein Amt nur indirekt zu spüren bekommen. Zwar seien keine Stellen gestrichen worden, dafür müssten die Sonderpädagogen aber immer mehr zusätzliche Aufgaben übernehmen, sagt Merzaghi.
Sorgen bereitet ihm, dass gleichzeitig die Zahl der Schüler mit psychischen Problemen zunimmt. Dies führe dazu, dass das Modell der differenzierten Integration an seine Grenzen stosse.
Mattia Mengoni, der Sekretär der 1600 Mitglieder umfassenden Behindertenorganisation Atgabbes, hat denn auch Handlungsbedarf an der Schnittstelle zwischen Regelklasse und Sonderschule ausgemacht.
Mit viel individueller Betreuung könne ein behindertes Kind manchmal den Sprung in die Regelklasse schaffen. Erhalte es diese Hilfe aus irgendwelchen Gründen nicht, bleibe nur die Sonderschule. Ueber diesen Aspekt müsse man nachdenken, sagt Mengoni.
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