Nachholbedarf, Börsenkommentar "Marktplatz", von Thorsten Kramer.
Frankfurt (ots)
An Europas Aktienmärkten kann die Anleger zurzeit ganz offensichtlich nichts wirklich aus der Ruhe bringen. Während in den USA der Budgetstreit eskaliert und die Schuldenobergrenze bald erreicht ist, Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi Italien um ein Haar in eine Regierungskrise stürzt und die Diskussion über weitere Finanzhilfen für Athen neues Futter erhält, behaupten sich die maßgeblichen Indizes in der Nähe ihrer jüngst erreichten Hochs. Der Dax büßte binnen fünf Tagen 0,4% ein, der EuroStoxx50 kam sogar leicht voran. Die von vielen erwartete Konsolidierung lässt also weiterhin auf sich warten.
Die Widerstandskraft der europäischen Aktienindizes ist ein Beleg dafür, dass die meisten Investoren, die in den zurückliegenden Monaten in Frankfurt, Paris, Madrid oder Mailand Positionen aufgebaut und darauf bereits ansehnliche Gewinne verbucht haben, mit Blick auf das Jahresende und darüber hinaus von einem weiteren Kursanstieg überzeugt sind. Andernfalls hätten sie längst Kasse gemacht. Für deren Zuversicht gibt es auch gute Gründe. Die Verschuldungskrise in der Eurozone ist zwar längst nicht überwunden, die Lage scheint aber unter Kontrolle. Die europäische Konjunktur fasst allmählich Fuß. Und global gesehen verdichten sich die Signale, wie etwa der Anstieg des Einkaufsmanagerindex für den chinesischen Servicesektor auf ein Sechsmonatshoch zeigt, dass der Wirtschaft im neuen Jahr die von Investoren erhoffte Erholung gelingt.
Nun lässt das Gebaren mancher US-Politiker befürchten, dass der Haushaltsstreit die Märkte bis zur Monatsmitte zunehmend belasten wird. Schließlich stehen schon jetzt - siehe die Warnung des Internationalen Währungsfonds - erhebliche Bremseffekte für die US-Konjunktur sowie - wohl eher theoretisch - sogar der Zahlungsausfall der weltgrößten Volkswirtschaft im Raum. Dies wird das Sentiment kurzfristig trüben. Finden Regierung und Opposition in Washington wie erwartet aber rechtzeitig einen Kompromiss, spricht vieles dafür, dass die Aktienmärkte weltweit vor einem weiteren Anstieg der Notierungen stehen. Und dabei gelten Europas Märkte als erste Wahl, weil sich hier gegenüber den bereits stark gestiegenen Märkten in den USA und Japan erhebliches Nachholpotenzial aufgebaut hat.
Im Jahresverlauf sind bereits Milliardensummen zurück an Europas Aktienmärkte geflossen, die Investoren zunächst aus Furcht vor der globalen Finanzkrise und schließlich wegen der Verschuldungskrise seit dem Jahr 2007 abgezogen hatten - insbesondere in den zurückliegenden Wochen. Allein im September investierten Anleger in Exchange Traded Funds mit Fokus auf europäische Aktien umgerechnet netto knapp 4 Mrd. Euro, zeigen Daten des Vermögensverwalters BlackRock.
Berücksichtigt man Investmentfonds, summieren sich die Nettomittelzuflüsse in den vergangenen Wochen auf 6,1 Mrd. Euro. Seit Jahresbeginn legten Akteure mittels solcher Produkte somit bereits knapp 13 Mrd. Euro in europäischen Aktien an. Gemessen am Niveau aus dem Jahr 2007 tut sich indes immer noch eine große Lücke auf: Damals hatten Anleger, wie Daten der Société Générale zeigen, mittels Fonds rund 64 Mrd. Euro mehr als aktuell in europäische Dividendenwerte investiert.
Trotz der hohen Summen, die bereits zurück an die Aktienmärkte in der Eurozone geflossen sind, agieren viele Investoren nach wie vor vorsichtig. Insbesondere, wenn sich Hoffnungen auf steigende Unternehmensgewinne im Prognosetrend der Analysten abzeichnen, sollte sich der Knoten aber weiter lösen. Interessant zu beobachten wird es dann sein, wo Investoren den größten Nachholbedarf sehen: in Deutschland, dessen Exportindustrie von einer globalen Erholung profitieren dürfte, oder doch eher an den Börsen der großen Peripherieländer Italien und Spanien, die stark unter der Schuldenkrise leiden.
(Börsen-Zeitung, 5.10.2013)
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