Aus dem Gleichgewicht, Kommentar zum Europäischen Semester von Detlef Fechtner
Frankfurt (ots)
Das war gestern schon eine sonderbare Veranstaltung. Die EU-Kommission gibt den Startschuss für das Europäische Semester - also für jene Übung, die sichtbarer Ausdruck sein soll, dass sich die EU-Staaten wirtschaftspolitisch enger abstimmen. Doch der Eindruck, den der Auftritt der EU-Granden vor der Presse hinterlässt, ist, dass Europa wirtschaftspolitisch zerstritten ist.
Als erster Schritt wurden zum Auftakt des neuen Turnus jene Länder herausgepickt, deren ökonomische Entwicklung Risiken für die Nachbarn darstellen. Und was passiert? In der Pressekonferenz dreht sich merkwürdigerweise alles nur um ein Land: Deutschland. Die einen wollen neugierig (und nicht ganz ohne Häme) wissen, wann Deutschland denn nun endlich wegen seines Leistungsbilanzüberschusses Strafe zahlen müsse. Die anderen fragen verwirrt (und nicht ganz ohne Groll) nach, warum das denn überhaupt strafbar sein solle. Zwischendrin versuchen EU-Kommissar Olli Rehn und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso die Wogen zu glätten und wiederholen gebetsmühlenhaft, dass sich die eingeleitete Untersuchung ja nicht gegen die deutsche Wettbewerbsfähigkeit richte. Barroso sagt gar, dass "wir gerne mehr Deutschlands in Europa" hätten.
Aber da nun einmal die Indikatoren - auch der Leistungsbilanzüberschuss - über den Schwellenwerten lägen, bliebe der EU-Behörde gar nichts anderes übrig, als eine vertiefte Prüfung anzuordnen. Das müssten doch gerade die Deutschen verstehen, die gemeinhin streng auf die Einhaltung von Regeln pochten. Die Lehre des gestrigen Tages ist: In Europa ist einiges aus dem Gleichgewicht - und zwar eben nicht nur Leistungsbilanzen. Dass allein über Überschüsse geredet wurde, ist ein Defizit - ein strukturelles, politisches. Die Idee, nationale Wirtschaftspolitik von Brüssel aus zu bestimmten Maßnahmen zu veranlassen, läuft ins Leere, solange bereits die Auswahl der Länder für die vertiefte Prüfung öffentlich als Strafgericht wahrgenommen wird. Anders gesagt: Es ist naiv zu glauben, dass durchaus bedenkenswerte Maßnahmen wie Steuervergünstigungen für Investitionen oder die Öffnung von Dienstleistungsmärkten dadurch befördert oder gar erzwungen werden können, dass die EU implizit mit einem Verfahren droht, das sie ohnehin nie eröffnet. Der Versuch regelgebundener Steuerung stößt bei Ungleichgewichten - anders als bei Defiziten - schnell an Grenzen. Das Europäische Semester funktioniert längst nicht so gut, wie es ständig behauptet wird.
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