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Ein Vertrag, besser als befürchtet
Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Berlin (ots)

Der große und mutige, die Zukunftsprobleme des Landes und der Gesellschaft anpackende Wurf ist dieser Koalitionsvertrag nicht. Aber die Lage in Deutschland ist ja auch nicht so düster, wie sie von den Oppositionsparteien einschließlich der SPD im Bundestagswahlkampf beschworen wurde. Das Land lebt noch immer ganz gut von seiner Substanz. Wenn es eine große Koalition schafft, diese zumindest zu wahren, gar auf ein etwas breiteres Fundament zu stellen, wäre das schon ein Erfolg.

Die Chancen dafür sind nicht so schlecht, wie es Kritiker behaupten. Der Koalitionsvertrag ist keine neue Agenda, wie sie einst Gerhard Schröder im Alleingang - durch die Not gedrängt - gewagt hat. Aber er ist ein solider fairer Kompromiss zwischen drei Parteien, die sich vor ein paar Wochen noch aufs Schärfste beharkt haben. Dass alle drei Vorsitzenden sich am Mittwoch als Sieger preisen konnten, spricht für ein solches Austarieren sehr unterschiedlicher Interessen und Forderungen. Alles kein Signal zum Aufbruch. Aber auch kein wirkliches Gefährdungsprogramm für die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung im Lande, von der auch diese Koalition abhängig ist, will sie halten, was sie im Vertrag verspricht.

Und was hat Berlin von alledem? Keinen Grund zum Meckern. Obwohl das Bonn-Berlin-Gesetz nicht geändert und der Hauptstadtvertrag finanziell nicht aufgebessert wird. Die moderate Mietpreisbremse dagegen wird auch viele Berliner freuen. Noch größere Zufriedenheit sollte in weiten Teilen von Wissenschaft und Kultur herrschen. Freie Universität und Humboldt-Universität als bisherige Exzellenz-Universitäten können weiter mit Sonderförderungen rechnen, ebenso die Charité angesichts der proklamierten "herausgehobenen Stellung" für die Gesundheitsforschung.

Im Kulturteil des Vertrags wird es sogar konkret: volle Unterstützung bei der Realisierung des Humboldt-Forums samt Finanzierung des Nutzungskonzepts, Stärkung der Arbeit der Stiftungen Preußischer Kulturbesitz und Schlösser und Gärten. Das Gedenkstättenkonzept wird durch die dauerhafte finanzielle Sicherung des Archivs der DDR-Opposition und der Open-Air-Ausstellung "Friedliche Revolution 1989" sowie durch die Unterstützung des Umzugs des Alliierten-Museums zum ehemaligen Flughafen Tempelhof aufgewertet. Es hat sich wohl ausgezahlt, dass mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und der CDU-Bundestagsabgeordneten und Kanzlerin-Vertrauten Monika Grütters nicht nur zwei Berliner, sondern auch schon eine personalisierte große Hauptstadtkoalition mit am Verhandlungstisch saß. Das hat auch intern bereits Wirkung gezeigt. Berlins SPD-Landesvorsitzender Jan Stöß, bislang skeptisch gegenüber einem Bündnis mit der Union im Bund, empfiehlt seinen Genossen Annahme.

Wieweit diese Einsicht Einzug in die Gesamtpartei hält, bleibt die alles entscheidende Frage. Ob die Koalition tatsächlich besiegelt wird, hängt nun allein von den 470.000 SPD-Mitgliedern ab. Parteichef Sigmar Gabriel muss ein riskantes, weil angesichts Hunderttausender "Karteileichen" unberechenbares Mitgliedervotum für sich entscheiden. Das sieht die Satzung so vor. Der Ausgang der Abstimmung bestimmt nicht nur die nächste Bundesregierung, von ihm hängt auch die Zukunft des gesamten SPD-Vorstands ab. Fällt das Votum für die Führungsriege negativ aus, dürften ihre Tage an der Spitze gezählt sein. Sie haben als klare Wahlverlierer immerhin herausgeholt, was zu bekommen war: Mindestlohn, Aufweichung der Rente mit 67, mehr Geld für die Kommunen, Einstieg in die doppelte Staatsbürgerschaft. Aber es bleibt spannend. Dieser Unsicherheit ist auch die Bitte der SPD geschuldet, über die Minister vorerst zu schweigen. Allein zum Inhalt entscheiden, nicht über Personen - eine Lehre der SPD-Führung nach ihrem mageren Wahlergebnis jüngst beim Leipziger Parteitag.

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