Schweizerische Vereinigung der Gelähmten ASPr-SVG / Polio.ch
Neue Polio-Fälle sind in der Schweiz möglich
Medienmitteilung zum Weltpoliotag vom 28. Oktober 2024
Freiburg/Schweiz (ots)
Die Situation im Gazastreifen zeigt es: Polio-Erkrankungen treten innert Monatsfrist auf, wenn die hygienischen Bedingungen zusammenbrechen und unzureichend geimpft wird.
Poliomyelitis, kurz Polio, oder altbekannt Kinderlähmung ist jederzeit auch in der Schweiz möglich: Einerseits durch zu niedrige Impfraten, andererseits durch vermehrte Einschleppung der Polio-Viren. Das Bundesamt für Gesundheit BAG ist sich der Situation bewusst.
Neue Polio-Erkrankungen sind in der Schweiz sehr gut möglich, insbesondere in Anbetracht der Migrationsbewegungen aus Afghanistan und Pakistan, den beiden einzigen endemischen Polio-Ländern. In Afghanistan waren im Jahr 2022 nur 76 Prozent der einjährigen Kinder geimpft und es kommt jedes Jahr zu Polio-Erkrankungen - Kinder werden gelähmt. Die Viren gehen auf Reisen mit Menschen, die unzureichend gegen Polio geschützt sind. Die Infizierten merken davon meist nichts, da die allermeisten Infektionen ohne Symptome verlaufen. Aus Afghanistan verzeichnete die Schweiz im Jahr 2023 die meisten Asylgesuche (7'934 gemäss Staatssekretariat für Migration SEM).
95 Prozent wären nötig
95 Prozent ist die anvisierte Impfrate bei 8-jährigen in der Schweiz. Dieser Wert stoppt die Weiterverbreitung und führt zur Ausrottung des Virus. Bei 94 Prozent liegt der Schweizer Durchschnitt. Nur ein gutes Drittel der Kantone hat das notwendige Ziel erreicht. Die tiefste Rate schreibt der Kanton Luzern mit 89 Prozent. Eingeschleppte, aber auch hier zirkulierende Viren zusammen mit der niedrigen Durchimpfungsrate in gewissen Regionen, können ganze Landstriche infizieren - Polio-Erkrankungen wären die Folge.
Das BAG bereitet sich auf Polio-Fälle vor
Das BAG ist sich der Situation bewusst und hat seinen Aktionsplan "Poliomyelitis" vor einem Monat aktualisiert. Darin steht, dass ein "nicht unerhebliches Ausbruchsrisiko in Bevölkerungsgruppen besteht, die nicht ausreichend geimpft sind." Zudem bereiten sich das BAG und die Kantone gemäss Antwort auf eine Anfrage von polio.ch auf neue Fälle vor.
Wo ist der Impfschutz zu tief?
Empfohlen sind vier Impfungen - drei davon im ersten Lebensjahr. Bei den 2-jährigen sind im Appenzell Innerrhoden nur 87 Prozent mit den drei vorgeschriebenen Dosen geimpft. Bei den 16-jährigen erreicht die Impfrate in Appenzell nur 85 Prozent, in Schwyz nur 89 (2023). Die Innerschweiz und das Appenzellerland sind am schlechtesten geschützt. Ein Sprach- und ein Stadt-Land-Graben tun sich auf. Dazu das BAG, welches die Impfquoten mittels Querschnittsstudien auf kantonaler Ebene ermittelt "Es ist möglich, dass die Durchimpfung in einzelnen Regionen und Personengruppen tiefer ist als die kantonal hohen Werte. In solchen "Pockets of Lower Vaccination Coverage" sind Übertragungsketten möglich. Die Bevölkerung als Ganzes ist aber gut geschützt."
Auch die WHO schaut wachsam auf die Schweiz
Der Polio-Beauftragte der Weltgesundheitsorganisation, Oliver Rosenbauer, veranschaulicht die Gefahr in der Schweiz: "Jedes Mal, wenn es Lücken in der Durchimpfung gibt, besteht die Gefahr, dass das Poliovirus in einem bestimmten Gebiet Fuss fassen kann. So wurde beispielsweise 1993 das Poliovirus aus Indien in eine niederländische Gemeinde mit sehr geringer Durchimpfungsrate eingeschleppt, was ... damals bei 71 Kindern zu lebenslangen Lähmungen führte."
Poliomyelitis und die Spätfolgen
Das Polio-Virus ist ein höchst ansteckender Darmerreger mit zerstörerischer Wirkung meist auf die Muskelsteuerung der Beine, manchmal auf die Atmung bis zum Tod durch Ersticken. Obwohl die Kinderlähmung in weiten Teilen der Bevölkerung und in medizinischen Kreisen kaum mehr bekannt ist, leben in der Schweiz gemäss Schätzungen 7'000 Polio-Überlebende und 70'000 am Post-Polio-Syndrom erkrankte Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation geht von weltweit 20 Millionen aus.
Auch ohne Krankheitsausbruch kann es zum Post-Polio-Syndrom führen
Da Polio auch sanftere Krankheitsverläufe kennt, ist bis heute unklar, wieviel Personen wirklich mit Polio infiziert wurden. Von 1913 bis 1982 wurden in der Schweiz 20'871 Erkrankungsfälle vermeldet.Bei der heimtückischen Krankheit sind aber die Ansteckungsfälle um ein Vielfaches höher. Bei weniger als einem Prozent der Infizierten kommt es zu Lähmungen, bei 5 bis 10 Prozent zu Hirnhaut-entzündungen oder "nur" zu Grippesymptomen - trotzdem hat die Infektion stattgefunden.
Fünfzehn bis fünfzig Jahre nach einer (auch unwissentlich) durchgemachten Kinderlähmung kann das Post-Polio-Syndrom auftreten. Dabei sind schwer beeinträchtigte und dann erholte Muskelgruppen betroffen, aber auch solche, die von der akuten Poliomyelitis scheinbar nicht berührt worden waren. Es treten neue Lähmungen auf, alte kehren zurück, dazu u.a. Atemfunktionsstörungen.
85 Jahre ASPr-SVG und seit 1990 Schweiz. Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom SIPS
Die Schweizerische Vereinigung der Gelähmten wurde 1939 gegründet, als die Kinderlähmung (Poliomyelitis) schweizweit das Leben von vielen Kindern, Eltern und Geschwistern innerhalb von
24 Stunden völlig auf den Kopf stellte. Monate- bis jahrelange Spital- und Rehabilitationsaufenthalte, schmerzhafte Trennung von der Familie und längere Schulabwesenheit, aber auch Tausende von Todesfällen waren einige Konsequenzen dieser hochansteckenden Krankheit. Die ASPr-SVG|Polio.ch ist zusammen mit der Fachgruppe SIPS (Schweizerische Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom) die Anlaufstelle für Menschen mit Polio und Post-Polio-Syndrom in der Schweiz.
Interviews aus erster Hand
Gerne vermitteln wir Ihnen Polio- und Post-Polio-Betroffene für ihre Erfahrungen mit der Krankheit.
Links: www.aspr.ch www.polio.ch Festschrift ASPr-SVG 75 Jahre
25 Jahre Schweizerische Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom
Statistik Impfungen 1999 - 2023 Aktionsplan Poliomyelitis Schweiz
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