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Eidg. Volkswirtschaftsdepartement (EVD)

EVD: Die Lust und die Last in der heutigen Zeit Verantwortung zu tragen

Bern (ots)

Rede von Bundesrat Joseph Deiss,
Vorsteher des Eidg. Volkswirtschaftsdepartements,
anlässlich des
Forums „Kommunikation in der Angstgesellschaft - Vertrauen aufbauen 
in unsicheren Zeiten“,
Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung HSW Bern
Fachhochschule Bern, 19. Mai 2003
Sperrfrist
19.05.2003/18:00
Es gilt das gesprochene Wort !
Sehr geehrte Damen und Herren
Wir Schweizer sind nicht als ausgesprochene Lustsubjekte bekannt.
Hemmungslose Lust ist französisch, allenfalls italienisch, aber kaum 
eidgenössisch. Als Giovanni Casanova im 18. Jahrhundert in Bern 
weilte, meinte er belustigt: „Les dames de Berne jouissent de la 
plus grande liberté. J‘ai remarqué que les maris n‘y sont pas 
jaloux, mais ils exigent qu‘à neuf heures elles soient toujours à la 
maison pour souper en famille“.
Lust ist also ein herausforderndes Thema für einen Bundesrat der 
Schweizerischen Eidgenossenschaft. Erst recht, wenn es um die Lust 
auf Verantwortung geht.
Wenn ich heute trotzdem über die Lust und Last von Verantwortung 
spreche, dann weil ich die Bereitschaft, Verantwortung zu 
übernehmen, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik für 
eine sehr wichtige Sache halte. Und weil ich zuweilen befürchte, 
Verantwortung werde immer weniger als ein Erfolgsfaktor und immer 
mehr als ein unerwünschtes Risiko wahrgenommen.
Wenn die Amerikaner einem ihrer Politiker ein Kompliment machen, 
sagen sie „he proves courage and leadership“. In der Schweiz sagen 
Sie „er ist pragmatisch“. Wenn Sie andernorts Verantwortung als 
Herausforderung oder Chance wahrnehmen sollten, hier gilt sie vor 
allem als Last. Woher kommt das?
Wir Schweizer haben ein ausgeprägtes Sensorium für Fragen der Macht. 
Zuviel Macht ist uns suspekt. Vor allem in den Händen von anderen. 
Unser Demokratieverständnis ist nicht nur Überzeugung, dass 
Betroffene konsultiert werden sollen. Es ist auch bewährte 
Gewohnheit, Macht in kleine Stücke zu zerteilen, sodass keiner sich 
an ihr vergreift. Selbst das Staatsoberhaupt der Schweiz ist nicht 
der Bundespräsident, sondern der siebenköpfige Bundesrat. Wir sind 
damit nicht schlecht gefahren. Amtspersonen sind deshalb gut 
beraten, ihre Persönlichkeit nicht mit ihrer Position zu 
verwechseln. Wer etwas bewegen will, muss Mehrheiten überzeugen 
können, und das ist auch richtig so.
Die direkte Demokratie hat auch den Vorteil, dass Verantwortung 
gemeinsam getragen wird. Am gestrigen Abstimmungssonntag hat der 
Bundesrat zwar neun mal gewonnen. Das Fazit aber lautet: Das Volk 
hat Verantwortung gezeigt. Stimmt auch, bei einer unerwartet hohen 
Stimmbeteiligung von 48,3%. Stimmt sogar doppelt, in einer Zeit in 
welcher die Gesellschaft immer mehr der Versuchung ausgesetzt ist, 
die Probleme mittels Moratorien vor sich hin zu schieben. Auf der 
anderen Seite hat die Zerstückelung der Macht dazu geführt, dass 
sich Verantwortlichkeiten auf merkwürdige Weise verflüchtigen. Die 
Verantwortung wird zuweilen demokratisch geteilt, jedem ein bisschen 
und keinem so richtig. Sitzungen, so behaupten böse Zungen, sind 
Anlässe, bei denen viele hineingehen, und wenig herauskommt.
Andere, noch bösere Zungen, behaupten, Sitzungen dienten 
zwischendurch vor allem der Verwischung klarer Verantwortung. 
Entscheidungen werden von Anfang an aus der Perspektive betrachtet, 
was ist, wenn was schief läuft. Wer ist dann „verantwortlich“? In 
den Ohren vieler Politiker tönt denn auch der Satz „Sie sind 
verantwortlich“ schon wie „Jetzt hab ich Dich!“. Und je geringer in 
der Politik die Lust auf Verantwortung, desto grösser scheint die 
Bereitschaft, eine Forderung aufzustellen.
Der erfolgreiche Politiker von heute fordert schon vor dem 
Frühstück, wenn möglich öffentlich und mit Nachdruck. Der Bund soll 
sparen, aber nicht hier oder dort und auch nicht anderswo, aber 
sparen soll er. Der Bund soll sich einsetzen für die Arbeitnehmer 
oder gegen die Arbeitnehmer, für die Fachhochschulen oder gegen die 
Fachhochschulen (Bern natürlich ausgenommen), für mehr 
Entwicklungszusammenarbeit oder eben weniger. Sie kennen das, und 
Sie kennen auch die Weisheit hinter dem Rezept: „Enten legen ihre 
Eier in aller Stille. Hühner gackern dabei wie verrückt. Was ist die 
Folge? Alle Welt isst Hühnereier“.
Fordern ist gut, weil auch bequemer, weil eben auch weniger 
Verantwortung damit verbunden ist. Mit einer solchen Haltung bin ich 
nicht einverstanden. Und ich bin auch nicht einverstanden, wenn 
erfolgreiche Politik nur durch glitschige Sätze zu erreichen ist. An 
denen man keine Verantwortung festmachen kann. Politik, gute 
Politik, erfordert Verantwortung. Das ist nicht einfach. Es braucht 
etwas Mut dazu. Man wird kritisiert. Und man wird mit den erwähnten 
Forderungen eingedeckt.
Aber Politiker, welche jede Aussage in patriotische Holzwolle 
verpacken oder nur aussprechen wollen, was alle anderen schon 
denken, bringen uns nicht weiter. Man muss, wie Gottfried Keller 
sagte, ab und zu selbst einen Schuss laden und abgeben, „..auf sein 
eigenes Mannesgewissen und nicht so in das verabredete 
Haufengewissen hinein, wo einer sich hinter dem anderen versteckt 
und alle sich gegenseitig mit schreckbaren Reden Mut machen müssen“. 
Von mir aus kann es auch ein Frauengewissen sein, Hauptsache es ist 
das eigene. Verantwortung als eine ethische Pflicht bedingt 
Rücksicht auf Dritte.
Es ist unbestritten, dass das Denken einzelner Politiker zugunsten 
unseres Landes mit dem Gedanken an den eigenen Garten beginnt und 
nach einem kurzen Ausflug in die Gedankenwelt der andern auch wieder 
beim Gemüse aufhört, das man selber anpflanzt. Oder frei nach 
Gotthelf: „Im Hause muss rentieren, was leuchten soll im Vaterland“. 
Verantwortung wahrnehmen, heisst aber das Gegenteil: den Blick aufs 
Ganze nicht verlieren. Und ich sage das jetzt nicht, oder zumindest 
nicht nur, mit Blick auf die Diskussion über weitere Sparanstrengen 
des Bundes.
Gerade heute, wo wir feststellen müssen, dass wir in der 
Vergangenheit über unseren Verhältnissen gelebt haben, wo es gilt, 
echte Prioritäten für die Zukunft zu setzen, bedeutet Verantwortung 
zugunsten unseres Landes eben auch eine Perspektive über den eigenen 
Gemüsegarten hinaus. Ich bin aber auch nicht einverstanden, wenn 
umgekehrt versucht wird, mit ein paar Kraftausdrücken angereicherte 
Vereinfachungen als Verantwortungsbereitschaft zu verkaufen.
Es braucht heute oft mehr Mut und Verantwortungsbewusstsein, einen 
Sachverhalt differenziert zu schildern, abzuwägen und zu gewichten. 
Wer trägt denn heute Verantwortung in unserer Gesellschaft? Doch in 
erster Linie die Eltern für ihre Kinder, die 300‘000 Unternehmer für 
ihr Geschäft und ihre Angestellten, die Lehrer für ihre Schüler und 
Studenten, die Ärzte und das Pflegepersonal für ihre Patienten. 
Verantwortung ist auch nicht in Franken zu messen.
Eine Gesellschaft wie die unsere kann nicht funktionieren, wenn für 
wahrgenommene Verantwortung sofort etwas verlangt und dann beglichen 
wird. Schauen Sie einmal auf all die Freiwilligen-Arbeit, in der 
Regel ohne Pressebegleitung, aber unglaublich wertvoll. 
Verantwortung entspringt einem inneren „Müssen“ oder um es mit Hans 
Jonas zu sagen, „einer als Pflicht anerkannten Sorge“. Alles relativ 
unspektakulär, alles bekannt. Verantwortung ist somit, es auch dann 
zu tun, wenn es nicht populär ist oder wenn es niemand sieht.
Schliesslich möchte ich hier noch unterscheiden zwischen 
„Verantwortung“ und „Verantwortlichkeit“. Verantwortung ist das, was 
wir selber übernehmen. Verantwortlichkeit ist das, was man uns 
zuschiebt, wenn etwas schief geht. Verantwortlich ist jeder für sich 
selbst und seine Handlungen. Verantwortung hingegen haben wir für 
Andere. Es ist gut, wenn die Öffentlichkeit unserer Führungselite 
aus Politik und Wirtschaft auf die Finger schaut. Aber nicht jeder, 
dem etwas misslingt, ist ein Versager.
Verantwortung übernehmen heisst auch Risiken übernehmen für 
Entwicklungen, die wir nicht kontrollieren können. In den USA sind 
zum Beispiel Konkursiten gesuchte Leute, weil man ihnen zutraut, 
dass sie aus ihrer Erfahrung gelernt haben. Bei uns hingegen werden 
sie abgestempelt, und der Neuanfang wird ihnen schwer gemacht, 
sowohl rechtlich, als auch moralisch. Natürlich gibt es auch Leute, 
die ihrer Verantwortung nicht gewachsen sind. Verantwortung hat mit 
„antworten“ zu tun. Wer Verantwortung trägt, muss denjenigen unter 
seiner Verantwortung antworten können, und zwar meistens auf die 
Frage „warum?“ oder „warum nicht?“
Da liegt das Problem: Viele, die heute Verantwortung tragen, finden 
keine Antworten auf die Frage „warum?“ bzw. „warum nicht?“, oder sie 
können nicht zu ihren Antworten stehen. Wenn wir nach Antworten 
suchen müssen, um unser Handeln zu rechtfertigen, dann wird 
Verantwortung zur Last. Wenn wir unseren Antworten selber nicht 
glauben, dann wird Verantwortung zum Verhängnis.
So, ich möchte meine und ihre Lust, etwas zur Lust und zur Last von 
Verantwortung zu sagen, nicht weiter strapazieren. Ich habe wie Sie 
Lust auf Verantwortung. Und ich trage Verantwortung. Und ich habe 
Freude daran. Es geht uns wohl allen gleich: Dass wir heute stehen, 
wo wir sind, hat auch mit einer sorgfältigen Ausbildung zu tun. Und 
dafür sind wir dankbar. Ausbildung ist nämlich ein wichtiger Schritt 
in Richtung Verantwortung. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen und der 
Fachhochschule weiterhin Erfolg, viel Lust und wenig Last.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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