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Bundeskanzlei BK

Die planmässige Förderung der internationalen Nächstenliebe

Bern (ots)

Ansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger zu
100 Jahre Caritas" Luzern, 1. Juni 2001 Die "Caritas" hat ein
respektables Alter, das ergibt sich schon aus ihrem Namen: Er ist
lateinisch und heisst "Wertschätzung" oder "Herzenswärme". Würde die
Caritas heute gegründet, hiesse sie wohl "www.help!", und was sich
Caritas 1901 zum Ziel gesetzt hat, würde heute vermutlich mit
"Solidarity Promotion" umschrieben. Dieses Ziel hiess:
"Planmässige Förderung der christlichen Nächstenliebe".
Was ist denn das, planmässige Förderung der christlichen
Nächstenliebe? Kann Liebe geplant werden? Ist organisierte Liebe
überhaupt noch Liebe?
Fragen wir uns also zunächst: Was ist christliche Nächstenliebe?
Jesus wurde dies durch einen Schriftgelehrten gefragt und er
antwortete:
"Es war ein Mensch, der fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus
und schlugen ihn und machten sich davon und liessen ihn halb tot
liegen.
Ein Samariter, der auf der Reise war, kam daher und wie er ihn
sah, jammerte er ihn.
Und er ging zu ihm, goss Oel und Wein auf seine Wunden und verband
sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und
pflegte ihn.
Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem
Wirt und sprach: Pflege ihn, und wenn du mehr ausgibst, will ich
dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme."
Jesus sprach zum Schriftgelehrten: "So geh hin und tue desgleichen!"
Der barmherzige Samariter hat einem halb toten Menschen das Leben
gerettet und sorgte für seine Genesung. Das ist eine soziale Tat, die
wir als solche würdigen wollen, denn ohne sie wäre ein Mensch
gestorben.
Es gibt keine soziale Ordnung ohne dieses Engagement einzelner
Menschen. Es hat ausser der unmittelbaren Hilfe auch mittelbare
Folgen.
Wir alle wissen: "Wer heute Böses leidet, wird morgen Böses tun."
Wie sich diese Wahrheit über Jahrtausende perpetuiert, erleben wir
heute täglich im Nahen Osten.
"Wer heute Gutes erlebt, kann morgen Gutes tun." Das ist die
Umkehr dieser Regel. Daher hat die Tat des Samariters - also jede
Einzelhilfe, jedes Pflästerli - ebenfalls diese perpetuierende
Dimension. Deswegen forderte Jesus: "So gehe hin und tue
desgleichen."
Das Ziel von Caritas geht über das hinaus. Caritas will solche
christliche Nächstenliebe planen.
Wir wollen ja, dass allen, die es nötig haben, geholfen wird, und
wir wollen mehr: Dass es keine Armen gibt, die auf Fürsorge und Hilfe
angewiesen sind. Dass es keine Räuber gibt, die jemanden halb oder
ganz tot schlagen. Dass es keine Menschen gibt, die, obwohl sie
arbeiten, nicht genug zum Leben haben. Das muss geplant und
organisiert werden.
Die Industrialisierung vor etwa hundert Jahren hat dazu geführt,
dass sich die Nationalstaaten um die planmässige Organisation von
Hilfe zu kümmern begannen. Die Sozialpolitik ist einen weiten Weg
gegangen und hat im vergangenen Jahrhundert Gewaltiges geleistet:
Fürsorge, Vorsorge, Sozialversicherungen, Krankenversicherungen;
relativ jung in der Schweiz ist das Opferhilfegesetz, das sich unter
anderem um "zusammengeschlagene, halb tote Opfer" planmässig kümmert.
In diese "planmässige Sozialpolitik" gehört auch, dass der Staat
Normen setzt und sie durchsetzt, damit es keine Räuber gibt. Und es
gehört zu dieser Sozialpolitik ebenfalls Gleichheit, Umverteilung,
Verhinderung von Armut, damit niemand zum Räuber werden muss.
Die Sozialpolitik wird auch heute noch hauptsächlich durch den
Nationalstaat wahrgenommen, ja, in Zeiten der Globalisierung wird die
Legitimation des Nationalstaates häufig auf seine sozialpolitischen
Aufgaben reduziert.
Wirtschaftliche Strukturen globalisieren sich, das heisst sie
lösen sich vom Nationalstaat. Wirtschaftsführer klagen gleichzeitig
über die staatliche Sozialpolitik: Sie sei bürokratisch, sie sei
übermässig und sie sei vor allem wettbewerbsbehindernd. Es wird auf
liberalere Regelungen (oder gar deren Absenz) in anderen Staaten
verwiesen und es wird den nationalen, - als Fesseln verunglimpften -
Regeln ausgewichen, indem Kapital, Firmen und Arbeitsplätze über
Grenzen und Kontinente verschoben werden.
So drohen sozialpolitische Errungenschaften heute zu verbleichen,
wie sich einst in Zeiten der Industrialisierung soziale Bindungen der
Familie zu lösen begannen.
Wenn heute die Staatsautonomie zugunsten supranationaler Gebilde
zerfällt, muss sich die Sozialpolitik ihrerseits globalisieren - so,
wie seinerzeit der Staat soziale Aufgaben übernommen hat, welche die
Grossfamilie und private Hilfsorganisationen nicht mehr zu erfüllen
vermochten. In anderen Worten: So, wie vor 100 Jahren eine staatliche
Intervention notwendig war, ist heute aktive Planung und Intervention
der Staatengemeinschaft notwendig.
Selbstverständlich will ich damit nicht sagen, nationale
Sozialpolitik sei überflüssig geworden. Doch es gilt, sie bewusst zu
ergänzen durch eine globale Sozialpolitik, die nicht nur AHV, IV,
Krankenversicherung, sondern etwas viel Umfassenderes meint. Globale
Sozialpolitik heisst, dass sich die Schweiz als Teil der
Staatengemeinschaft wahrnimmt und engagiert: Das besteht zunächst in
zwischenstaatlicher und supranationaler Zusammenarbeit - wie in der
Weltbank, bei der WTO oder beim IWF - wo es darum geht, soziale,
wirtschaftliche und umweltpolitische Nachhaltigkeit zu unterstützen.
Zu global verstandener Sozialpolitik gehören ebenfalls
friedensfördernde Einsätze - wir werden in ein paar Tagen darüber
abstimmen und wir werden Ja stimmen. Dazu gehört die Mitgliedschaft
in der UNO, über die wir in einem Jahr beschliessen werden.
Hilfseinsätze und Währungshilfe sind vergleichbar mit
internationaler Nächstenliebe. Planmässig gefördert und
institutionalisiert ist diese damit noch nicht.
Was innerhalb eines Staates gilt, gilt auch für die ganze Welt:
Wir müssen die Welt so gestalten, dass Wirtschaftsstrukturen und die
weltweiten Handelsbedingungen Armut verhindern, dass Rechtsordnungen
Gewalt verunmöglichen und dass demokratische Spielregeln weltweit zur
Selbstverständlichkeit werden.
Verlässliche Strukturen für eine solch planmässig geförderte
internationale Sozialpolitik sind erst im Entstehen. Mit den Visionen
in der Jubiläumsschrift zu "globaler Solidarität" und "planetarischer
Weltverantwortung" wirkt Caritas am Entstehen solcher Strukturen mit.
Für diese Einmischung in die Politik danke ich Ihnen!
Dennoch möchte ich noch einen Gedanken dem barmherzigen Samariter
selber widmen: Bedenken wir eines: Es ist der Fall der Berliner
Mauer, welcher der Globalisierung den entscheidenden Auftrieb gegeben
hat. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus war aber
nicht nur das Versagen eines wirtschaftlichen Systems. Er war auch
die Folge einer geistigen Leere, einer Orientierungslosigkeit.
Ist der freie Markt eine Antwort oder gar die einzige Antwort
darauf? Droht nicht auch einem konsumorientierten System des globalen
Marktes eine innere Leere? Besteht heute nicht die Gefahr, dass es
auf der einen Seite die sich rücksichtslos entfaltende Wirtschaft und
auf der anderen die soziale Moral der NGO's und der Politik gibt, die
sich um die Armen, die Opfer und die Umwelt kümmern? Und führt dies
eine Gesellschaft langfristig nicht in dumpfe Teilnahmslosigkeit?
Sind wir mit unseren medialen, boulevardesken Demokratien imstande,
eine solche Leere zu vermeiden?
Nein, wir sind es nicht. Und ich bin sicher, dass sich
gesellschaftliche Ziel- und Inhaltslosigkeit auch mit perfektestem
Planen und Organisieren weder vermeiden noch füllen lässt.
Für den Aufbau einer gerechten Welt ohne Armut und Gewalt brauchen
wir auch den Einsatz und das Vor- und Menschenbild des Samariters.
Die Herzenswärme, die Wertschätzung, die Caritas ist unentbehrlich.
Es gilt das gesprochene Wort!

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