Bundespräsident Moritz Leuenberger
Ansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger an der 650-Jahre-Feier des Kantons Zürich.
Zürich (ots)
650 Jahre Zürich in der Eidgenossenschaft
Was wäre, wenn Zürich den Bund von 1351 nicht abgeschlossen hätte?
Die Frage ist gar nicht so abwegig: Denn eigentlich wollte Zürich ja gar nicht unbedingt zur Eidgenossenschaft. Es schloss diesen Vertrag nur deswegen ab, weil es den Habsburgern nicht in die Hände fallen wollte.
Was wäre mit der Eidgenossenschaft geschehen ohne den Bund mit Zürich? Gäbe es sie noch? Keine Angst, liebe Gäste, die Frage ist nicht arrogant gemeint. Aber es seien eben doch Zürcher Truppen unter Hans Waldmann gewesen, die in den Kämpfen gegen die Burgunder den entscheidenden Stoss geführt hatten.
Ohne diesen Bund wäre Zürich vermutlich eine österreichische Grenzstadt. Statt des Züri-Fäschts gäbe es Mozart-Festspiele. Wir würden statt Rösti Kaiserschmarrn essen und hätten darum auch keine Ahnung von einem Röstigraben, und folgerichtig gäbe es auch keinen Streit um Frühenglisch und Frühfranzösisch. Zürich wäre Teil der EU, hätte heute ein paar Probleme weniger und ein paar Probleme mehr.
Aber wir wissen, dann wäre Zürich nicht Zürich.
Zürich ohne die Schweiz, die Schweiz ohne Zürich - ein Albtraum, ein cauchemar!
Wir feiern heute, dass es anders gekommen ist: Zürich hat sich 1351 in schwierigen Zeiten für die Eidgenossen entschieden. Und niemand hat dies bis heute bereut, Zürich nicht, die Schweiz nicht, obschon das ganze Land ständig, und auch ein wenig argwöhnisch hierhin blickt.
Zürich und die Schweiz - das ist ein Thema, über das beinahe so viel geredet wird wie über den Röstigraben.
Aber was ist "Zürich" überhaupt? Eine laute Sprache? (Im Kasperlitheater in Basel, wo ich aufwuchs, hat die Prinzessin immer Baseldeutsch und der Teufel immer Zürichdeutsch gesprochen - ich bin dann trotzdem hierhin gezügelt.)
Was ist Zürich? Die Bahnhofstrasse? Die Chefredaktionen der grossen Medien? Die Stadt? Das Land? Der Kanton?
Wenn die europafreundliche Presse aus der Westschweiz über die Igelmentalität herzieht, setzt sie diese gerne mit Zürich gleich. Dabei stimmen Zürich, Winterthur und andere Zürcher Städte in Öffnungsfragen nicht anders als die Compatriots jenseits der Saane.
Wenn aus der Innerschweiz gegen den Sündenpfuhl Zürich mit seinem Christopher Street Day und seiner liberalen Drogenpolitik gewettert wird, geht oft vergessen, dass in der Zürcher Landschaft eben so viele Vorbehalte gegen diese Entwicklungen da sind.
Wenn Schweizer Banken und Zürich in einem Atemzug genannt werden, ist dies eine unzulässige Verkürzung, denn internationale Banken gibt es auch in Basel und Genf und anderen Schweizer Städten. (Etwas anderes als die Banken sind die Bänke, die in der ganzen Stadt stehen, die wurden ja für die Gäste gezimmert, weil die immer so müde werden vom Tempo hier in Zürich.)
Zürich lässt sich also nicht einfach über einen Leisten schlagen, wie die Schweiz auch nicht. Zürich ist ein durch und durch schweizerischer, wenn nicht sogar der schweizerischste aller Kantone. Denn was unser Land insgesamt ausmacht, nämlich dass es aus lauter Minderheiten besteht, trifft erst recht für Zürich zu. Hier sind die Minderheiten besonders dicht beieinander und die Gräben sind so ausgeprägt wie überall in der Schweiz: der Graben zwischen Stadt und Land, innerhalb der Städte sogar zwischen einzelnen Quartieren, der Graben zwischen den politischen Parteien, der Graben zwischen traditioneller und avantgardistischer Kultur, der Graben zwischen einer Schweiz, die sich öffnen will, und einer Schweiz, die bleiben möchte, wie sie war.
In Zürich spiegelt sich die Schweiz, und in der Schweiz spiegelt sich Zürich.
Seien wir froh, dass es innerhalb der Schweiz, innerhalb des Kantons Zürich all diese Gräben gibt. Die stetige Sorge um unsere Verschiedenheit bleibt der Stachel im Fleisch unseres Selbstverständnisses. Es gehört zu unserem eidgenössischen Denken, Verschiedenheiten ohne Empfindlichkeiten und Ängste wahrzunehmen. Diese berühmten Gräben führen dazu, dass sich die verschiedenen Regionen unseres Landes stets neu und besser verstehen können. Sie erinnern uns daran, dass der Bund der Eidgenossenschaft immer wieder erneuert werden muss.
Das ist ja auch das Bemerkenswerte an diesem vor 650 Jahren geschlossenen Bund zwischen Zürich und den Urkantonen: Er wurde zwar als ein «ewiges Bündnis» geschlossen. Es wurde aber auch vereinbart, dass der Vertrag alle zehn Jahre neu zu bekräftigen sei - «mit Worten, mit Schrift und mit Eiden und mit allen Dingen» die dazu notwendig seien - damit «dies Bündnis Jungen und Alten und all denen, so dazu gehören, immer mehr desto wissentlicher» sei.
Dieser Wille zur Erneuerung, diese Erkenntnis, dass ein Ziel, eine Vision immer wieder neu definiert und dass der Weg dazu stets wieder neu gefunden werden muss, ist das Wesentliche an diesem Vertrag. Er selber wurde tatsächlich ständig erneuert und auch die total renovierte Bundesverfassung haben wir bereits wieder abgeändert. Mehrmals jährlich beschliessen wir in Gemeinde, Kanton und Bund an der Urne Verfassungsänderungen, erneuern also den Gesellschafts- und Staatsvertrag, der uns bei allen Differenzen, die wir bezüglich Weltanschauung, der Herkunft, des Alters, des Geschlechts oder der Sprache haben, verbindet.
Zu dieser Erneuerung gehört auch, dass wir das Wort Friede anders als vor 650 Jahren definieren. Die Urkantone fallen ja nicht mehr in Zürich ein - ausser an katholischen Feiertagen, und wenn sie dann plündern, zahlen sie dafür - in der Regel, auch die Parkbussen.
Unter Friede verstehen wir heute mehr, nämlich die Voraussetzungen, damit wir mit gerechter Verteilung der Lasten und Belastungen nebeneinander leben können. Solcher Friede muss immer wieder erarbeitet werden: Der Friede zwischen Stadt und Land, zwischen den Generationen, zwischen den Sprachen, den sozialen Gruppen.
Generationen haben diesen Frieden, der ursprünglich nur ein Landfriede zwischen den herrschenden Familien war, weiter entwickelt und die moderne Schweiz geschaffen. Unsere Aufgabe ist es, dieses Werk im Sinn der Bundesverfassung von 1998 fortzusetzen.
Die stete Erneuerung geht weiter, und wir wollen weiter darauf hin arbeiten, den Frieden zu erhalten.
Ich denke an den Steuerfrieden, der nur zu erreichen ist, wenn Gemeinden und Kantone sich nicht gnadenlos konkurrenzieren. Die Städte dürfen mit ihren hohen Zentrumslasten nicht allein gelassen werden. Derselbe Grundsatz gilt auch unter Kantonen. Föderalismus hat ja nicht zum einzigen Zweck, die Steuern optimieren zu können. Zum Frieden gehört auch die Gleichheit, die Egalité. Gigantische Unterschiede - bei den Einkommen, beim Vermögen, aber auch bei den Steuern - widersprechen dem Grundgedanken des eidgenössischen Vertrages.
Ich denke auch an den Integrationsfrieden. Die Schweiz soll den hier geborenen Kindern von Ausländern eine vollwertige Heimat sein. Ich habe auf der Schulreise des Bundesrates gestern auch die Gräber von Elias Canetti und James Joyce besucht. Zürich und die Schweiz haben immer Menschen aus anderen Kulturen zu integrieren vermocht. Die gekommen sind, haben unser Land bereichert, und die aus der Schweiz in andere Kulturen gegangen sind, haben das Ausland befruchtet. Zürich hat von diesem konstanten Austausch gelebt. Einmal waren es Schriftsteller, die zu uns kamen, heute ist es die schweizerische Architektur, welche in der ganzen Welt präsent ist und unser Land vertritt. Das gleiche gilt aber auch für die Wirtschaft, die Textil-, die Industrie-, die Finanzwirtschaft.
Wir sind kein geschlossener Hühnerhof. Diese Vorstellung der Geschlossenheit, von völliger Unabhängigkeit, diese Angst vor der Welt stammt aus dem Krieg, und sie verträgt sich nicht mit dem Vertrag, den wir heute feiern, dem Vertrag, der den Frieden zum Ziel hat, den Frieden im Inneren und den Frieden mit der Welt. Dieser Frieden ermöglicht erst die Entwicklung.
Die ständige Veränderung, die ständige Erneuerung, die Zirkulation, der Austausch, die Offenheit garantieren uns die Ziele des Vertrages von 1351. Dank dieser Entwicklung ist Zürich, das früher für seine zwinglianische Enthaltsamkeit bekannt war, heute in der Lage, dieses Jubiläum mit einem Fest zu feiern.
Frohes Fest!