Schweizerischer Nationalfonds / Fonds national suisse
Die Schweiz - ein Land ohne nationale Geschichte?
Bern (ots)
Während sich die Menschen in Lateinamerika vor allem an nationale Ereignisse erinnern, behalten die Menschen in Westeuropa und insbesondere in der Schweiz primär internationale Geschehnisse im Gedächtnis, wie eine vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Studie zeigt.
Was bleibt uns von unserem Leben in Erinnerung? Und in welchem Bezug steht es zu historischen Ereignissen, die es begleiten? Ein vom SNF unterstütztes internationales Forschungsteam fand heraus, dass in Lateinamerika vor allem Diktaturen das kollektive Gedächtnis der Menschen geprägt haben. Im Gegensatz dazu sind es in Westeuropa internationale Geschehnisse, die in Erinnerung geblieben sind.
Diktaturen
Im Mittelpunkt des Projekts stand folgende Frage: "Welche Ereignisse und Entwicklungen, die in Ihrem Land stattgefunden haben, haben bei Ihnen die nachhaltigsten Eindrücke hinterlassen?" Etwa 12'000 Frauen und Männer beantworteten die Frage, wobei sie höchstens vier Ereignisse anführen durften. Dabei wurde ihr Alter berücksichtigt. Es stellte sich heraus, dass Erlebnisse, die im Teenager- oder zu Beginn des Erwachsenenalters stattfanden, besonders tiefe Spuren im Gedächtnis hinterlassen haben. Geleitet wurde die Studie von den Soziologen Stefano Cavalli und Christian Lalive d'Epinay von der Universität Genf.
Bei fünf lateinamerikanischen Ländern fielen die Ergebnisse je nach geschichtlichem Hintergrund unterschiedlich aus. In Argentinien, Chile und Uruguay haben die Diktaturen die Erinnerung der Menschen geprägt, während die Brasilianer und Mexikaner die Amtszeiten der Regierungschefs Lula da Silva und Vicente Fox nannten. Das einzige häufig genannte internationale Ereignis war der Anschlag vom 11. September 2001.
Der Zweite Weltkrieg
Im Gegensatz dazu zeigen die Europäer und insbesondere die Schweizer keinen starken Bezug zur eigenen Geschichte. In der Schweiz, in Belgien, Spanien, Finnland, Frankreich, Italien und auch Kroatien wurden fast immer die gleichen internationalen Ereignisse zuerst genannt. Zuoberst in der Rangliste stehen der Zweite Weltkrieg, der Fall der Berliner Mauer und der 11. September 2001. Das ist ein Beleg dafür, dass es in der Europäischen Union trotz der derzeit politisch schwierigen Situation eine gemeinsame Erfahrung gibt, welche die Menschen verbindet.
Den Schweizern sind zudem die erste Mondlandung, der Fortschritt, die Europäische Union, der Irakkrieg, der Mai 1968, die Ermordung John F. Kennedys und der Golfkrieg in Erinnerung geblieben. Es entsteht der Eindruck eines Landes ohne nationales Geschichtsbewusstsein. Keines der zehn am meisten genannten Ereignisse betrifft das Land selbst.
Publikation
C. Lalive d'Epinay, V. Concha, L. Gastrón, E. Guichard, G. Henríquez, G. Lynch, M.J. Oddone, Mondialisation et mémoires de l'histoire. Une comparaison internationale et intergénérationnelle, in : R. Bourqia (Hg.), La sociologie et ses frontières. Faits et effets de la mondialisation, Paris 2012, S. 119-133.
(Auf Anfrage als PDF erhältlich: com@snf.ch)
Diese Medienmitteilung ist auf der Webseite des Schweizerischen Nationalfonds abrufbar: www.snf.ch > Medien > Medienmitteilungen
Kontakt:
Dr. Stefano Cavalli
Fakultätsübergreifendes Kompetenzzentrum für Gerontologie und
Gefährdungsanalysen
Universität Genf
Route des Acacias 54
1227 Carouge
Tel.: +41 79 667 07 95
E-Mail: stefano.cavalli@unige.ch