Bundeskanzler Schröder im RTL-Interview (Langfassung): Entscheidung zu Kandidatur 2006 noch nicht gefallen
Köln (ots)
Themen: Entscheidung zu Kandidatur 2006 noch nicht gefallen/Fischers Pläne/Reales Renteneintrittsalter erhöhen/Sozialen Missbrauch notfalls mit Gesetzgebung begegnen/EU-Stabilitätspakt auch Wachstumspakt/ Keine Regierungsumbildung geplant
Während "aus Regierungskreisen" die Nachrichtenagentur Reuters erfahren haben will, dass sowohl Bundeskanzler Gerhard Schröder als auch Bundesaussenminister Joschka Fischer erneut antreten wollen, bestätigte Schröder dies in einem RTL-Interview nicht. Seine eigene Entscheidung über eine erneute Kandidatur hänge von vielen Faktoren ab: "Solche Entscheidungen berühren die eigene Lebensperspektive, die der Familie, berühren auch die Interessen des Landes, der Partei. Das hat nichts mit vordergründigen Erwägungen (gemeint waren Wahlchancen) zu tun." Zur Bewerbung von Joschka Fischer als erster europäischer Aussenminister sagte Schröder: "Seine Qualitäten sind völlig unbestritten. Doch auch da gilt, dass er sich zunächst einmal selber äussern sollte. Und ich bin sicher, dass er das auch tun wird. Er soll das Recht des ersten, eigenen Wortes haben."
In dem RTL-Interview dementierte Schröder auch Gerüchte, wonach eine Regierungsumbildung geplant sei: "Ich habe keine solche Absicht." Gefragt nach altersbedingtem Personalentscheidungen, sagte Schröder: "Was den 71jährigen Otto Schily angeht, er gehört zu den Besten in der Regierung, und das zeigt, dass man solche Entscheidungen nicht allein vom Alter abhängig machen darf."
Die Vielzahl der Fälle von sozialem Missbrauch in Deutschland (Stichwort "Floridarente") stösst auf harte Kritik bei Bundeskanzler Gerhard Schröder. In dem Interview mit RTL, das in Ausschnitten bei RTL aktuell heute Abend um 18.45 Uhr und ausführlich in einer Sondersendung "RTL aktuell Spezial" um 0.20 Uhr gezeigt wird, wies er den Vorwurf, Ursache des Missbrauchs seien Gesetzeslücken, zurück: "Das sind weniger gesetzliche Lücken als Urteile von Obergerichten, deren Rationalität nicht einleuchtet, um es sehr diplomatisch zu sagen. Der Missbrauch muss, wenn Gerichtsurteile das nicht selber hinkriegen, gesetzlich ausgeschlossen werden. Das werden wir nicht zuletzt deshalb tun, um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit vom Staat und in die Gerechtigkeit sozialstaatlicher Lösungen nicht zu zerstören. Leute, die einen solchen Sozialmissbrauch begehen, und Leute, die ihnen dabei helfen, ruinieren eine Solidarität, auf die wir in der Gesellschaft angewiesen sind." Schröder betonte, dass auch im Bereich der Arbeitsämter der Kampf gegen den Missbrauch verstärkt werde.
Weiter betonte Schröder, dass "der europäische Stabilitätspakt auch Wachstumspakt" sei. Keine von beiden Komponenten dürfe vernachlässigt werden. "Es muss eine europäische Strategie geben auf der Basis des Paktes, Wachstum in den Vordergrund zu stellen. Es geht um eine sorgfältige Balance zwischen beiden Zielen." Ob das Ziel einer Senkung der Neuverschuldung unter die Drei-Prozent-Marke realistisch sei, wollte Schröder weder bestätigen noch widersprechen: "Wir haben keine wirklich zuverlässigen Zahlen. Ich halte nichts davon, sich über Zahlen 'aus Kreisen von' zu unterhalten. Da ist viel Absicht im Spiel, verunsicherte Debatten heraufzubeschwören."
Im Zusammenhang mit der Umsetzung des Reformpakets "Agenda 2010" appellierte Schröder an die im Bundesrat stärker vertretende Opposition: "Die Union wird meiner einer reinen Blockadehaltung nicht durchkommen. Das weiss sie auch. Denn auch ihre eigenen Wählerinnen und Wähler, ihre Mitglieder werden fordern, dass die Union sich bewegt. Ich setze auf den Prozess der Überzeugung und der Einsicht." So habe die Union in Bezug etwa auf die Steuerreform nichts Konstruktives beigesteuert: "Bisher sehe ich keinen vernünftigen Vorschlag. (...) Eine reine Verweigerungshaltung schadet dem Land."
Zur Empfehlung der Rürup-Kommission, das Renteneintrittsalter anzuheben, verwies Schröder darauf, die Arbeit der Kommission nun in Ruhe auswerten zu wollen. Es käme in Deutschland vor allen Dingen darauf an, das tatsächliche Renteneintrittsalter von 60 Jahren hochzubringen, sagte Schröder in dem RTL-Interview, das am heutigen Donnerstag wenige Stunden nach der offiziellen Übergabe des Berichts der Rürup-Kommission geführt wurde. Die Kommission empfiehlt unter anderem die Anhebung des Eintrittsalters auf 67 Jahre. Vielmehr müsse die Differenz zum gesetzlichen Rentenalter verringert werden.
Als Reaktion auf die Kritik der Gewerkschaften an den Vorschlägen der Rürup-Kommission sagte Schröder: "Wir müssen vielen Gruppen sagen, so wie es war, kann es nicht weitergehen. Das betrifft nicht nur die Unternehmen und die Selbständigen, das betrifft natürlich auch die Arbeitnehmer. Die haben auch Verständnis dafür. Sie haben jedoch wenig Verständnis für eine Politik der Gewerkschaftsspitzen, die so tun, als müsse sich nichts verändern." Über kritische Aussagen des designierten IG-Metall-Chef Jürgen Peters sagte Schröder: "Am Kurs, den wir eingeschlagen haben, werden wir auch angesichts dieser Äusserungen nichts ändern." Schröders versteht Peters' Aussagen auch wahltaktisch: "Man weiss auch in den Gewerkschaftsspitzen was notwendig ist. Solche Äusserungen fallen im Vorfeld eines grossen Kongresses, auf dem man (Peters) gewählt werden will." Solche Konflikte jedoch habe es "immer gegeben. Die müssen ausgestanden werden, ohne dass das prinzipiell gute Verhältnis in Gefahr gerät."
In Bezug auf den Hamburger Regierungsskandal vertritt Schröder die Auffassung, dass Neuwahlen erforderlich seien: "Ole von Beust hat richtig gehandelt (mit Schills Entlassung). Er hätte noch richtiger gehandelt, wenn er sich Schill erst gar nicht aufgeladen und ihn nicht zum Bürgermeister und Innensenator gemacht hätte." Es wäre "wünschenswert, wenn sich eine Mehrheit fände, über den Auflösungsantrag im Landesparlament (positiv) zu entscheiden." Grenzen müsse es jedoch in der Berichterstattung der Medien über die Privatsphäre geben: "Es ist Aufgabe der Medien selber, die Nase aus Dingen herauszuhalten, die sie nichts angehen. (...) Die sexuelle Prägung eines Ministerpräsidenten oder Bürgermeisters ist keine Frage der Qualität seiner Arbeit."
Die geplante Erweiterung des Engagements deutscher Truppen in Afghanistan rechtfertigte Schröder: "Es wird ein Mandat der UN geben, da bin ich mir sicher. (...) Und es gibt seit langer Zeit die Bitte von Kofi Annan, ob man über Kabul hinaus Wiederaufbau absichern könne." Die Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan sei jedoch nicht als Ersatz für den Irak-Einsatz gedacht: "Das wäre kein tragfähiges aussenpolitisches Konzept." Im Irak sei Deutschland sehr engagiert, was humanitäre Hilfe und Wiederaufbauprojekte angehe. Aber: "Wir haben keine Pläne, uns militärisch im Irak zu engagieren. Das ist auch eine Frage der Ressourcen. Wir sind mit 4000 Leuten auf dem Balkan. 3000 deutsche Soldaten bewachen amerikanische Anlagen in Deutschland. Wir sind am Horn von Afrika und im Golf engagiert. Wer immer meint, Deutschland täte nicht genug, der irrt." Auf die Frage, ob sich die Position der Bundesregierung zum Irak-Einsatz ändere, wenn es ein UN-Mandat gäbe, sagte Schröder nur: "Es besteht kein Anlass, darüber zu spekulieren."
Zwar gäbe es noch keinen konkreten Termin zwischen ihm und dem US- Präsidenten George Bush, auch nicht am Rande der UN-Vollversammlung in New York, doch gäbe es "eine Menge an Gesprächsnotwendigkeiten." Es sei jedoch "eine Legende, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht in Ordnung waren. Die waren die ganze Zeit sehr deutlich eng und dass wir in der Irak-Frage unterschiedlicher Meinung waren, wird von niemandem bestritten."
Auf Nachfrage sagte Schröder, Bundespräsident Johannes Rau mache "ein erstklassiges Amt. Ich wäre glücklich, wenn er das Amt weiterhin versehen würde, aber es ist allein seine souveräne Entscheidung, ob er sich bereit findet oder nicht. Er hat gesagt, er wird dies in diesem oder im nächsten Monat bekannt geben. Würde er eine positive Entscheidung treffen, so wäre ich sehr froh darüber, er hätte meine volle Unterstützung."
Kontakt:
RTL Kommunikation
Andreas Hahm-Gerling
Tel. +49/221/456 - 4228
E-Mail: andreas.hahm-gerling@rtl.de