Herbsttagung der Angestellten Schweiz vom 24. Oktober 2008 in Emmenbrücke: Strukturwandel - Herausforderungen für die Angestellten von morgen
Zürich (ots)
Die Welt, und ganz besonders die Arbeitswelt, verändert sich immer schneller. Wer als Arbeitnehmer weiss, wohin die Reise geht, kann sich darauf einstellen und sich dafür vorbereiten. Orientierungshilfe leisteten die Angestellten Schweiz mit ihrer Herbsttagung zum Thema Strukturwandel, an der die ausgewiesenen Wirtschaftsexperten Beat Kappeler und Rudolf Strahm referierten. Beat Kappeler zeigte die kommenden Trends in der Arbeitswelt und der Weltwirtschaft auf. Rudolf Strahm erläuterte, was dies für die Arbeitsmarktfähigkeit und die Weiterbildung der Angestellten bedeutet.
Arbeitswelt, Lebenswelt, Weltwirtschaft - die nächsten Trends Positive Zahlen präsentierte Beat Kappeler zu Beginn seines Referats: Anstieg der Beschäftigten um eine Viertelmillion in fünf Jahren (im dritten Sektor), rekordhohe Erwerbsquote (88,2%), viele Selbständige (13%) und hohe Quote von Beschäftigung über das Alter 65 hinaus (13,2% der Männer, 5,7% der Frauen). "Wenn viele arbeiten, nehmen sie den anderen die Arbeit nicht weg, im Gegenteil: Viele andere können nun dank der Kaufkraft auch arbeiten." Diesen Schluss zog Beat Kappeler aus den guten Zahlen. Und er stellte zufrieden fest: "Die Schweiz hat hier, im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich, ein Wachstumsmodell gefunden."
Allerdings, warnte der Wirtschaftsexperte dann, werde man drei Trends kaum unbesehen in die Zukunft verlängern können: - Die Älteren würden nicht so schnell noch zahlreicher über das Alter 65 hinaus arbeiten - Die Tertiarisierung werde kaum in diesem Tempo weitergehen - Die Erwerbsquote werde sich kaum mehr steigern lassen
Als Wermutstropfen bezeichnete Beat Kappeler den stagnierenden Reallohn. Und er vermutete, dass sich auf Grund der Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland mit der Zeit durchaus ein fühlbarer Druck auf die Löhne schweizerischer Qualifizierter ergeben könne.
"Trotz gelegentlicher Sorgen um Jugend, Kriminalität und Übergewicht leben die Schweizer auf einer Insel der Seligen." Dies stellte Beat Kappeler, in Bezug auf die Gesellschaft, nicht etwa zynisch fest. Es sei auch die Selbsteinschätzung der Schweizer. Und es dürfte so bleiben, der Konsens dazu sei vorhanden und die vielen Einwanderer würden die Werte unseres Landes mittragen.
Als eine Gefahr hingegen sieht Beat Kappeler die Verrechtlichung aller Lebensbereiche. Alles werde immer stärker geregelt, vom Tabak bis zum Diplom, was letztlich die "Transaktionskosten" der Gesellschaft und Volkswirtschaft massiv erhöhe.
Bezüglich der AHV erachtet Beat Kappeler eine Anpassung der neuen und laufenden Renten an die demografischen Trends sowie das Bruttoinlandprodukt des Vorjahres als absolut notwendig. In der zweiten Säule müsse der Umwandlungssatz deutlich und rasch sinken, sonst zögen die Baby-Boomer ab 2010 mit zu hohen Renten davon, finanziert durch spätere Junge.
Was die Wirtschaft betrifft, so höre das Weltwirtschaftswachstum nicht auf, ist Experte Kappeler überzeugt. Seine Quellen würden sich aber von den USA Richtung China verschieben. Die Prognosen für die Schweiz, wie auch für die USA und die EU, lägen nunmehr unter einem Prozent. "Das ist kein nacktes Elend, aber mit dem Effekt auf Ausrüstungsinvestitionen kann dies allmählich auf Schweizer Exporte durchschlagen."
Weil wichtige "Kopfwerkfunktionen" im Lande blieben, erwartet Beat Kappeler, dass sich die Zahl und Qualität der Arbeitsplätze in der Maschinenindustrie steigert. Und er schlägt vor, dass die Gesamtarbeitsverträge eine Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer vorsehen sollen - unter anderem um zu vermeiden, dass diese Industrie von Staatsfonds von Rohstoff- und Ölproduzentenländern aufgekauft wird.
Für die zwei grossen Basler Pharmaunternehmen sieht Kappeler eine gute Zukunft. Sie verfügten über eine gute Produkte-Pipeline, seien kapitalkräftig und könnten Übernahmen im In- und Ausland tätigen.
"Die Inflation wird eher fallen, weil der Basis-Effekt aus den Preishaussen einsetzt, weil die Gewerkschaften weltweit kaum hohe Forderungen durchsetzen können, weil der Wettbewerbsdruck offener Weltmärkte besteht, und weil weiterhin - zumindest in Europa - der "China-price" die Endprodukte verbilligt." Davon gab sich Beat Kappeler überzeugt. Offen sei hingegen die Preisentwicklung der Rohstoffe, des Öls und der Landwirtschaftsprodukte.
Zum Schluss sprach Beat Kappeler deutliche Worte zum Thema "Anlagen von Unternehmen und Pensionskassen": "Die Geschäftsführung von Firmen und Pensionskassen wird die Anlagen wieder als direkte und abgerundete Engagements ihrer selbst willen ansehen. Vor allem wird man sich gründlich überlegen müssen, wem was gehört, wer wo haftet. Der Faden des Eigentums, wem was gehört, muss sich bis ins Letzte zurück verfolgen lassen."
Strukturwandel - Berufsbildung - Weiterbildung Die Schweiz hatte in den Neunzigerjahren das tiefste Wirtschaftswachstum, aber trotzdem die niedrigste Arbeitslosigkeit. Dieses Paradox erklärte Rudolf Strahm zu Beginn seines Referats mit dem arbeitsmarktnahen Bildungssystem. "Das schweizerische Bildungssystem verhilft zur Arbeitsmarktfähigkeit", stellte er fest.
Der Strukturwandel hatte zur Folge, dass heute nur noch 4% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft und 23% in der Industrie und im Bau arbeiten. Die restlichen 73% sind im Dienstleistungssektor beschäftigt. In der Industrie verschwinden zudem laufend traditionelle Wirtschaftszweige (z. B. die Giesserei), andere steigen jedoch auf (z. B. die Biotechnologie). Für die Angestellten bedeutet dies, dass sie beruflich mobil sein müssen. "Immer mehr Menschen müssen im Verlauf ihres Arbeitslebens den Beruf und die Branche wechseln", diagnostizierte Rudolf Strahm. Das täten sie auch, von den 20- bis 24-Jährigen arbeiten bereits 35% nicht mehr im erlernten Beruf, im Durchschnitt aller Arbeitsstufen sind es rund die Hälfte. Gefragt sind in der Wirtschaft vor allem gelernte Arbeitskräfte. "Die überflüssigen weniger Qualifzierten werden beim nächsten Konjunktureinbruch ausscheiden", gab sich Rudolf Strahm überzeugt.
Die schweizerische Exportindustrie ist gemäss dem Wirtschaftsexperten gut positioniert: "Der High-Tech-Anteil an den wichtigsten Industriegütern ist entscheidend für die Konkurrenzfähigkeit eines Hochlohnlandes. Bei wissenschaftlichen Instrumenten, bei Pharma- und Chemieprodukten und bei Maschinen ohne Stromproduktion ist die Schweizer Industrie hoch spezialisiert." Das Hochpreis- und Hochlohnland behaupte sich auf den globalen Märkten mittels Qualitäts- und nicht mittels Preiswettbewerb, führte Strahm weiter aus. Per Saldo sei unser Land Gewinnerin der Globalisierung.
Was ist denn eigentlich der Schlüssel zum Reichtum der Schweiz? Diese Frage stellte sich Rudolf Strahm als nächste. Und er beantwortete sie ganz kurz mit: "Die Produktivität." Würden nur die Löhne verglichen, gehöre die Schweiz zu den teuersten Ländern überhaupt. Werde aber die Leistung pro Arbeitsstunde verglichen, also die so genannte Arbeitsproduktivität, dann gehöre unser Land zur Spitze. Dasselbe Bild zeige sich beim Vergleich der sogenannten Lohnstückkosten (Arbeitskosten bereinigt durch die Arbeitsproduktivität). Strahm: "Mit höherer Produktivität senkt man die Lohnstückkosten und kompensiert damit die teure Arbeit. Je höher die Produktivität und Bildung, desto höhere Löhne sind möglich, um trotzdem konkurrenzfähig zu bleiben." Bildung mache sich also ganz direkt bezahlt.
In der Schweiz hat sich die Produktivität vor allem in der Exportwirtschaft in den letzten Jahren stark gesteigert. So in der Industrie von 1992 bis 2002 um 38%. Im Dienstleistungssektor waren es im Vergleich dazu nur 8% und in der Gesamtwirtschaft 16,4%. Im Gastgewerbe fiel die Produktivität sogar um 12%. Der Grund liegt gemäss Rudolf Strahm in einem Teufelskreis, in dem diese Branche gefangen ist: Weil sie strukturschwach ist, weist sie ein tiefes Lohnniveau auf. Folglich werden ungelernte, billige Arbeitskräfte rekrutiert und es gibt wenig betriebsinterne Beraufsausbildung. Das Innovations- und Qualifikationsniveau bleibt tief und damit auch die Arbeitsproduktivität.
Der Strukturwandel wird weitergehen. Die Angestellten werden mit ihm gemäss Wirtschaftsexperte Strahm fertig werden, wenn sie gut gebildet sind. Dabei spiele die Berufsbildung mit dem dualen System (Lehre in Betrieben, Berufsschulen) nach wie vor eine zentrale Rolle. Berufslehre-Absolventen hätten nämlich eine 40% tiefere Arbeitslosigkeit als die Erwerbsbevölkerung im Schnitt - auch als rein schulisch gebildete Arbeitnehmer. Die Schweiz habe traditionell die tiefste Jugendarbeitslosigkeit.
Es scheint also alles perfekt zu sein - oder beinahe. Rudolf Strahm hat im System doch noch eine Schwäche entdeckt: "Der zahlenmässig schrumpfende Industrie- und Bausektor bildet 6,9% mehr Lehrlinge aus, als er absorbieren kann. Umgekehrt bildet der wachsende Dienstleistungssektor 7,5% zu wenig Lehrlinge in Dienstleistungsberufen aus und verursacht einen Mobilitätssog." Weil dies gegenüber dem zweiten Sektor unfair ist, schlägt Strahm einen Lastenausgleichsfonds für die ganze Wirtschaft vor: "Wer nicht ausbildet, zahlt; wer ausbildet, erhält Kosten vergütet."
Zum Schluss zeigte Rudolf Strahm auf, wie das Bildungssystem in der globalisierten Wirtschaft weiter zu entwickeln ist, damit es uns weiterhin Reichtum beschert: "Alle Berufstätigen benötigen einerseits mehr Grundwissen wie Fremdsprachen und Informatik sowie Schlüsselkompetenzen wie Team- und Konfliktfähigkeit. Deshalb ist eine frühe Einschulung wichtig. Andererseits braucht es auch mehr bis zur Tertiärstufe (Fachhochschulen, Unis) Ausgebildete."
Die Angestellten Schweiz sind die stärkste Arbeitnehmerorganisation der Branchen Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) und Chemie/Pharma. Rund 25 000 Angestellte sind Mitglied. Angestellte Schweiz entstand aus dem Zusammenschluss der beiden Verbände Angestellte Schweiz VSAM (MEM, gegründet 1918) und VSAC (Chemie, gegründet 1993).
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