Migros-Genossenschafts-Bund Direktion Kultur und Soziales
Migros Museum für Gegenwartskunst Ian Cheng: Forking At Perfection
Zürich (ots)
20.02.-16.05.2016
Eröffnung: Freitag, 19.02.2016, 18-21 Uhr
In seiner künstlerischen Arbeit untersucht Ian Cheng (*1984, USA) die Wesensart und unterschiedlichen Aspekte von Mutationen und, daran anknüpfend, die Fähigkeit des Menschen, sich äusseren Umständen anzupassen. In einem Referenzsystem aus Videogame-Design, Improvisation und unerbittlichen darwinistischen Selektionsmechanismen entwickelt Cheng sogenannte «Live Simulations»: virtuelle Ökosysteme, die sich - ausgehend von programmierten Grundeigenschaften - eigenständig weiterentwickeln, also von keiner externen Autorität gesteuert oder determiniert werden. In ihrer Gestalt erscheinen Chengs Simulationen oft wie imaginäre Organismen in digitalen Versuchsanlagen. Sie speisen ihr Prinzip jedoch aus der schonungslosen Kausalität der Natur selbst. Daraus resultiert eine Reihe von zufälligen, neuen Verhaltensmustern, die der Künstler nur zu Beginn beeinflusst, jedoch nie vollends kontrollieren kann. Dieser Prozess manifestiert sich in Zustandsformen wie Chaos, Kollaps, Kannibalisierung, Neukombination, Perfektion, Zufall oder Langeweile. Cheng, der Kognitionswissenschaft an der University of California, Berkeley, studierte, begreift seine animierten Echtzeitsimulationen als «neurologische Gymnastik» für den Betrachter: ein Mittel, um das Erfahren der unaufhaltsamen Veränderung sowie Zustände der Verwirrung, Beklemmung und kognitiven Dissonanz zu trainieren. In seiner ersten Einzelausstellung in der Schweiz zeigt Cheng eine neue Arbeit.
Einen zentralen theoretischen Bezugspunkt von Chengs jüngsten Arbeiten bildet das umstrittene Hauptwerk des US-amerikanischen Psychologieprofessors Julian Jaynes (1920-1997). In seinem 1976 publizierten Buch The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind (Deutsch: Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche) entwickelt Jaynes eine Evolutionsgeschichte des menschlichen Bewusstseins. Er verfolgt darin die radikale Hauptthese, dass der Mensch der Vorantike nicht im Besitz eines subjektiven Bewusstseins gewesen war. Unter einem «subjektiven Bewusstsein» versteht Jaynes ein introspektives und reflexives Ich, das seine Handlungen zu kontrollieren und zu steuern vermag. Diese Errungenschaft des Menschen datiert er auf rund 1000 v. Chr. Der «vorbewusste» Mensch hingegen hörte in Stresssituationen halluzinative Stimmen aus der rechten Hirnhälfte, die er mit Göttern assoziierte und deren Handlungsanweisungen er befolgte. Jaynes' Kernthese basiert auf der neurologischen Annahme einer «bikameralen Psyche» (Zweikammergehirn). Im sogenannten «vorbewussten Entwicklungsstadium» war das menschliche Gehirn mit zwei Sprachzentren ausgestattet: Das linke diente der Alltagssprache - das rechte, das heute funktionslos ist, war Sitz der göttlichen Stimmen. Verantwortlich für diese Umstrukturierung der neuronalen Organisation waren gemäss Jaynes sowohl die soziologischen Veränderungen der Völkerwanderungen als auch die Ausbreitung der Schriftkultur, die zu einer Begegnung mit fremden Kulturen führten. Im Zuge dieser Entwicklungen seien die göttlichen Stimmen allmählich verstummt und an deren Stelle das individuelle Bewusstsein getreten. Relikte der «bikameralen Psyche» finden wir Jaynes' Theorie zufolge bis in die Gegenwart. Sie manifestieren sich in Phänomenen der Schizophrenie, der Hypnose oder der religiösen Ekstase.
Jaynes' spekulative Archäologie eröffnet ein alternatives und flexibles Modell der Evolution des menschlichen Bewusstseins. Nach Jaynes unterliegt dieses ähnlich einem Ökosystem multiplen Einwirkungen, die ein grosses, nicht vorhersagbares Spektrum an Verhaltensmustern hervorrufen. Chengs «Live Simulations» können als Laborsituation verstanden werden, die Jaynes' Modell der Evolutionsgeschichte aufnehmen. Während die Handlungen des Menschen noch in Homers Ilias von göttlichen Stimmen bestimmt waren, binden die Simulationen den Betrachter in Zeiten von Smartphones, Apps und Big Data in ein Kräftefeld ein, das mannigfache Reaktionen und Handlungen provoziert.
Ian Cheng (*1984, Los Angeles) lebt und arbeitet in New York. Seine Arbeit war in jüngster Zeit in mehreren Einzelausstellungen in europäischen Institutionen zu sehen: Pilar Corrias, London (2015); Fondazione Sandretto Re Rebaudengo, Turin (2015); Kunsthalle Düsseldorf (2015); Triennale di Milano (2014); Standard, Oslo (2013). Parallel dazu war Cheng in Gruppenausstellungen in der Kunsthalle Düsseldorf (2015), an der Taipei Biennial (2014) und der Lyon Bienniale (2013) vertreten.
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