Sprengstoff Rechnungszins, Kommentar zu Krankenversicherern von Antje Kullrich
Frankfurt (ots)
Der Blick auf ein immer akuter werdendes Problem der deutschen Krankenversicherer war lange verstellt: Neben der allgegenwärtigen Grundsatzdebatte um gesetzliches und privates System tobte in jüngster Zeit die Diskussion um den Vertrieb. Provisionsexzesse mussten mit gesetzlicher Regelung gestoppt werden, und der Skandal um die Insolvenz des auf Krankenversicherungen spezialisierten Finanzvertriebs MEG mit seinem schillernden Chef Mehmet Göker schaffte es sogar bis ins Kino.
Doch mittlerweile wird immer deutlicher: Die Krankenversicherer als große institutionelle Investoren, die für die hohen Krankheitskosten ihrer Kunden im Alter Vorsorge treffen müssen, haben ein Kapitalanlageproblem. Ihre in den Tarifen zugrunde gelegten Renditeerwartungen geraten zunehmend in Gefahr. Denn die Branche hat - anders als die Lebensversicherer - in den vergangenen Jahren trotz Zinsverfall am Kapitalmarkt keine Abstriche bei ihrem Rechnungszins gemacht. Er liegt wie in Stein gemeißelt bei 3,5%. Dass sich die Branche beim Gesetzgeber damit durchsetzen konnte, ist kein Wunder: Eine Senkung hätte direkte Beitragserhöhungen zur Folge gehabt. Die rund 9 Millionen Vollversicherten, von denen manche ohnehin mit heftigen Beitragssteigerungen im zweistelligen Prozentbereich konfrontiert sind, wären noch stärker zur Kasse gebeten worden. Politisch war das vor acht Jahren nicht durchsetzbar, doch jetzt bekommt die Branche die Quittung: Die Aufsicht zwingt die ersten Krankenversicherer, ihren Rechnungszins zu reduzieren. Deren Kunden drohen nun zusätzliche Beitragssteigerungen. Sollte die Phase der niedrigen Zinsen anhalten, werden weitere Unternehmen betroffen sein. Die Aussicht birgt Sprengstoff: Denn die Entwicklung könnte zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft führen - Versicherer mit angestammtem Rechnungszins und solche, die es nicht mehr schaffen.
Noch versucht die Branche, das Problem zu vertuschen. Die allermeisten Versicherer mauern, wenn es um konkrete Zahlen geht. Gerade für Neukunden ist das äußerst ärgerlich, denn sie haben keine Möglichkeit abzuschätzen, ob sich ihr künftiger Versicherer schon nah an der Grenze von 3,5% befindet und womöglich in absehbarer Zeit zu einer Senkung des Rechnungszinses und zusätzlichen Beitragssteigerungen gezwungen sein wird. Wettbewerb unter dem Vorzeichen mangelnder Transparenz ist volkswirtschaftlich fragwürdig. Der Gesetzgeber sollte mit Blick auf die Informationspflichten handeln.
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