Absurde Ideen, falsche Politik - Leitartikel von Marius Schneider
Berlin (ots)
Ja, es gibt sie noch, die großen transreligiösen Verbrüderungen und lebensanschaulichen Umarmungen in unserem Lande - und das ist schön. Noch schöner ist es, wenn diese Harmoniemomente sich auf so überraschenden Feldern wie dem aktuellen Kulturkampf um Wohl und Wehe des deutschen Kleinkindes ereignen. So freut sich die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs ausdrücklich auf das von der CSU geforderte Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder in den ersten Jahren nicht in die Obhut einer Kita geben wollen. Ein "kleiner Schritt in die richtige Richtung" zur Lösung für das Dilemma sei das, in dem viele Mütter steckten, die sich für Kind oder die Arbeit entscheiden müssten. Beherzt springt der Thüringer Familienbund der Katholiken bei und verurteilt den Streit über dieses Betreuungsgeld als "verlogen und unsachlich". Angstfreies Zuhausebleibendürfen für Mütter also, seelsorgerisch gestützt von einer großen Koalition der (Un-)Glaubensbrüder - was kann es Schöneres geben? Warum wird trotzdem so kleingeistig rumgemeckert am Betreuungsgeld? Die Antwort ist relativ einfach: Weil Politik nichts anderes ist als die Verteilung begrenzter finanzieller Mittel, um bestimmte gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Das Ziel moderner Familienpolitik ist es erstens, möglichst vielen Müttern die Rückkehr in den Beruf zu ermöglichen; zweitens, möglichst vielen Kindern gerade aus bildungsferneren Schichten den Zugang zu einer guten Grundbildung in frühen Jahren zu erleichtern. Genau deshalb ist jeder Euro, der nicht in neue Kitas fließt, sondern in die private Küchenkasse, politisch falsch angelegt. Und wenn man schon das erste Ziel vergeigt, dann heilt man das auch nicht mit der absurden Idee, nur Gutverdienern dieses Steuergeld zugutekommen zu lassen und es Hartz-IV-Empfängern wieder wegzunehmen. Denn ein Ausbau des Kita-Systems, in das diese Familien ihre Kinder geben könnten, findet trotzdem nicht statt. Und so ist "Kein Sex vor der Ehe" in katholischen Ländern wie Bayern längst keine spannende Herauforderung mehr. Denn die Realität etwa in München lautet: "Kein erstes Date vor der Kita-Anmeldung" für den potenziellen Nachwuchs! Wer dort mit jungen Eltern spricht, der weiß, wie real dieses Problem ist. "Ich würde ja gerne wieder arbeiten - aber ich finde einfach keinen Kita-Platz!" In diesem Satz von oft gut ausgebildeten Frauen, die gezwungen sind, ihre berufliche Weiterentwicklung immer weiter zu verzögern und damit ihren Unternehmen ihre Kompetenz vorzuenthalten, liegt der ganze wirtschaftliche und persönliche Schaden, den eine falsche Familienpolitik auslöst. Umso wundersamer mutet es da an, wenn die Familienministerin mitten im Streit über das Betreuungsgeld ein Millionenprojekt auflegt, um Müttern in Seminaren ein paar hübsche Anregungen für die schnelle Rückkehr in den Beruf zu vermitteln. Schräge Ideen mögen der beste Garant für ungewöhnliche Allianzen sein - manchmal sind diese Ideen aber auch einfach nur falsch. Die linke Opposition mag sich freuen über den Steilpass aus der Regierung, den die arme Kanzlerin nun für den Koalitionspartner CSU durchfechten muss. Der Schaden für sie und uns ist trotzdem zu hoch.
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