Start mit fahlem Beigeschmack - Leitartikel von Jochim Stoltenberg
Berlin (ots)
Das fängt leider nicht gut an. Wenn sich heute die Abgeordneten des 18. Bundestags zu ihrer ersten Sitzung im Reichstag versammeln und ihr Präsidium wählen, hinterlässt die zu erwartende große Koalition gleich einen ersten fahlen Beigeschmack. Mit der Kungelei von Union und SPD auf je zwei stellvertretende Bundestagsvizepräsidenten vermehren sie das parlamentarische Lenkungsgremien, obwohl es ab heute eine Partei weniger gibt. Mehr als die zusätzlichen Kosten einschließlich Dienstlimousine verdrießt die Dreistigkeit, mit der die beiden großen Parteien Privilegien auf Staatskosten an vermeintlich verdienstvolle Politiker aus ihren Reihen verteilen.
Was diesen Bundestag politisch erwartet, welche Krisen er mit bewältigen muss und welchen heute unabsehbaren Herausforderungen er sich stellen muss - das ist in Demut abzuwarten. Nur so viel lässt sich vorab sagen: Dieses Parlament wird nicht viel schlechter, wohl auch nicht viel besser sein als die meisten in der jüngeren Vergangenheit. Ein Bedenken allerdings sollte nicht bagatellisiert werden. In Zeiten, da Fragen von Wirtschaft und Finanzen an Dominanz und Brisanz weiter gewinnen, finden sich unter den Abgeordneten noch weniger Unternehmer und Manager mit Praxiserfahrung.
Über diese Entwicklung angesichts der zunehmend europäischen und globalen Dimension der Politik werden sich weit weniger Sorgen gemacht als um die Rechte der marginalisierten Opposition, sollte es denn tatsächlich zur GroKo kommen. Dass sich der DDR-erfahrene Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, aufplustert bis hin zur Forderung einer Grundgesetzänderung, um die Rechte der Opposition zu stärken, als drohe die Verfolgung von Minderheiten, geht an der Realität dieses Landes denn doch weit vorbei. Die Wähler haben über die Zusammensetzung des Parlaments entschieden; ganz demokratisch. Für gesetzlich, gar verfassungsrechtlich garantierte Sonderrechte gibt es folglich keinen Grund; wohl zu Absprachen zwischen den Großen und den Kleinen und gegebenenfalls zur Anpassung der Geschäftsordnung des Bundestags.
Die Bereitschaft zu beidem haben Union und SPD denn auch schon kundgetan. Und dass es funktioniert, haben die beiden früheren großen Koalitionen bewiesen. Aber es gilt, was auch auf Koalitionsverhandlungen zutrifft: Die vom Wähler gewollten Mehrheitsverhältnisse können nicht nachträglich auf den Kopf gestellt werden.
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