Interprofessionalität: Viel Potenzial für eine bessere Zusammenarbeit im Gesundheitswesen ist noch ungenutzt
Bern (ots)
Ungenügend bis gut: Die Diskussion über Interprofessionalität fällt am Careum Forum 2018 kontrovers aus. Klar ist: Es liegt noch viel Potenzial für eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Fachleute im Gesundheitswesen brach.
Interprofessionalität ist heute in aller Munde: Der Begriff hat seit Mitte der 90er-Jahre eine gewaltige Karriere hingelegt. Dies zeigte Dr. Peter Berchtold vom college M in seinem Inputreferat am Careum Forum 2018 anhand der Suchanfragen bei Google auf. Er bezeichnete den Begriff als Worthülse, die «für einmal aber nicht leer sondern übervoll ist». Er zeigte auf, dass eine auffallende Unbestimmtheit des Begriffes vorherrscht und dass interprofessionelle Zusammenarbeit als kommunikatives Vehikel dient, um unterschiedliche Ansprüche und Forderungen an das Gesundheitswesen zu stellen.
Trotzdem wagte Dr. Peter Berchtold einen Definitionsversuch: Interprofessionelle Zusammenarbeit ist dann gegeben, wenn gemeinsam etwas Neues entsteht, dass jeder Einzelne im klassischen Nebeneinander nicht hätte erreichen können. Denn Zusammenarbeit gab es schon immer. Dr. Peter Berchtold unterschied grundsätzlich drei Arbeitsformen: Das professionelle Arbeiten, das professionelle Miteinander und die interprofessionelle Zusammenarbeit - als Abweichung vom professionellen Miteinander. Zwar prognostizierte Dr. Peter Berchtold, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit noch zunehmen wird. «Doch es wird immer alle drei Arbeitsformen geben.» Er forderte zudem eine differenziertere Diskussion. Interprofessionalität ist nicht in allen Settings gleich. Auf der Notfallstation ist die Medizin wichtiger als die Diskussion, in der Palliative Care dagegen hat die Medizin nicht mehr viel zu bieten. Und wie sieht interprofessionelle Zusammenarbeit morgen aus? Für Dr. Peter Berchtold ist sie künftig nicht optional, sondern ein «normales» Ineinandergreifen unterschiedlicher Arbeitsformen. Kontroverse Diskussion um Noten für Interprofessionalität
Damit war die Basis gelegt für die Diskussionsrunde mit FaGe-Weltmeisterin Irina Tuor vom Kantonsspital Graubünden, Dr. Ryan Tandjung, Leiter Abteilung Gesundheitsberufe vom Bundesamt für Gesundheit, Bettina Kuster, Direktorin Pflege und Medizinisch-Therapeutische Berufe am Kinderspital Zürich, und Patientenvertreterin Dr. Judith Safford, Director of Operations am Institut für Rheumaforschung. Moderatorin Dr. Sylvia Kaap-Fröhlich, Leiterin Careum Bildungsentwicklung, wollte von ihren Gästen wissen, welche Note sie denn heute für die interprofessionelle Zusammenarbeit der verschiedenen Fachleute im Gesundheitswesen verteilen würden. Dr. Ryan Tandjung stellte in quantitativer Hinsicht ein gutes Zeugnis aus. Dem widersprach Dr. Judith Safford aus eigener Erfahrung jedoch vehement: Note 3 - ungenügend! In einem optimalen interprofessionellen Setting wäre ihre Diagnose viel früher gekommen. Sie sah deshalb noch viel Potenzial für Verbesserung. Auch Bettina Kuster kam optimistisch betrachtet höchstens auf die Note 4. Irina Tuor gab derweil eine 4-5, allerdings auch mit viel Luft nach oben. Im Schnitt ist Interprofessionalität also heute höchstens Mittelmass. Eine beauftrage Person für Interprofessionalität in Schulen und Spitälern wollte aber trotzdem niemand installieren. Der Tenor: Interprofessionalität muss als Thema strategisch verortet, aber nicht von einer Person von aussen verordnet werden. Gute Ansätze in der Ausbildung weiterverfolgen
Und wie sieht es in der Ausbildung aus? Werden Lernende und Studierende auf Interprofessionalität vorbereitet? Irina Tuor erzählte, dass ihr vor allem die Einblicke in andere Bereiche wie Physiotherapie oder Diabetesberatung sehr viel gebracht hätten. «Ich habe immer etwas von den anderen lernen können.» Sie wünscht sich deshalb, dass in der Ausbildung noch mehr andere Bereiche involviert werden und Geräte von anderen Berufen ausprobiert werden können. Für Bettina Kuster ist klar: «Wir müssen auch lernen, miteinander zu arbeiten.» Das Verständnis füreinander hilft später bei der wertschätzenden Zusammenarbeit im Berufsalltag. Als gute Ansätze bezeichnete sie etwa die Zürcher interprofessionelle klinische Ausbildungsstation (ZIPAS) am UniversitätsSpital Zürich, für die kürzlich ein Probelauf stattgefunden hat. Das Ziel ist, dass dort angehende Ärztinnen und Ärzte sowie angehende Gesundheitsfachpersonen im Team Patientinnen und Patienten versorgen und dabei gecoacht werden. Sie erwähnte auch die Careum Summer School, die Lernende und Studierende aus den Bereichen Medizin und Gesundheit zusammenbringt. «Die Rückmeldungen sind positiv. Diese Ansätze müssen wir weiterverfolgen.» Dr. Ryan Tandjung ergänzte, dass die Relevanz von Interprofessionalität erkannt sei. Er warnte allerdings vor der Gefahr von Berufsaussteigenden, weil die jungen Leute nach der Ausbildung im Berufsalltag desillusioniert seien, weil sich das System noch nicht angepasst hat.
Dr. Ryan Tandjung wies auch darauf hin, dass es noch mehr Forschung für den Patientennutzen braucht. «Es ist zwar nett, wenn wir besser zusammenarbeiten, aber letztlich muss auch der Patient davon profitieren.» Er sei zwar überzeugt, dass Interprofessionalität den Patienteneinbezug und die Koordination verbessere sowie zu einer schnelleren Diagnose führe. «Dieser Zusammenhang muss aber noch besser aufgezeigt werden.» Und wie können die Patienten, die selber Experten ihrer Gesundheit sind, noch besser eingebunden werden? Dr. Judith Safford zählte dafür zwei Massnahmen auf: Elektronisches Patientendossier einführen und Digitalisierung effizient nutzen.
Prof. Dr. Michael Gysi, neuer CEO der Careum Stiftung, zeigte sich derweil in seiner Ansprache begeistert, dass das Careum Forum im speziellen Rahmen im Stade de Suisse in Bern gleich neben den SwissSkills 2018 stattfinden konnte. «Es ist sehr motivierend, die jungen Leute zu sehen, die sich unter anderem für Gesundheitsberufe interessieren.»
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