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Schweizerischer Nationalfonds / Fonds national suisse

SNF: Randständige wecken Betroffenheit, stossen aber auch auf Gleichgültigkeit

Bern (ots)

Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zum
Alkoholkonsum im öffentlichen Raum
Alkoholabhängige Menschen, die sich vorwiegend in Gruppen im 
öffentlichen Raum aufhalten, sind meist männlich und schweizerischer 
Herkunft. Sie leiden oft an physischen und psychischen Krankheiten. 
Mehr als ein Drittel dieser Randständigen wurde im Verlauf seines 
Lebens sexuell missbraucht. Zum diesem Schluss kommt eine vom 
Schweizerischen Nationalfonds unterstützte sozialwissenschaftliche 
Untersuchung in fünf Deutsch- und Westschweizer Städten.
Wer sind die marginalisierten Menschen, die in Gruppen auf 
öffentlichen Plätzen leben und Alkohol konsumieren? Was denken sie 
über ihre Situation? Wie reagieren die Passantinnen und Passanten? 
Unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds hat ein Forschungsteam 
unter der Leitung von Corina Salis Gross und Gerhard Gmel im Jahr 
2008 die einschlägigen Szenen in Bern, Zürich, Chur, 
Yverdon-les-Bains und Lausanne sowie die betreffenden städtischen 
Politiken untersucht. Die Sozialwissenschaftler interviewten 206 
Randständige sowie über 1000 Passanten.
Die untersuchten Randständigen bestehen mehrheitlich aus Männern 
(73%). Je grösser die Stadt, desto homogener sind die Gruppen 
hinsichtlich der konsumierten Suchtmittel. In den Szenen der 
kleineren Städte (Chur, Yverdon) werden neben Alkohol zusätzlich 
Methadon, Heroin, Kokain und Benzodiazepine konsumiert. Fast ein 
Viertel der Untersuchten besitzt keine feste Unterkunft. Das 
Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren. Die meisten Randständigen 
sind schweizerischer Herkunft.
Negative Erfahrungen mit Passanten
Über ein Drittel der Untersuchten (35%) erlitt im Verlauf des Lebens 
mindestens einmal einen sexuellen Übergriff; bei den weiblichen 
Personen sind es sogar 67%. Zwei Drittel gaben an, in ihrem Leben 
mindestens einmal beinahe gestorben zu sein. Viele weisen einen 
schlechten physischen und psychischen Gesundheitszustand auf (Gelenk-
und Knochenschmerzen, Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit).
Das Betteln ist kaum ein Motiv für den Aufenthalt auf öffentlichen 
Plätzen. Als Grund für die Gruppenzugehörigkeit gaben viele nicht nur
die Verfügbarkeit von Suchtmitteln, sondern vornehmlich emotionale 
Unterstützung (Trost, Verständnis) und sozialen Nutzen an 
(Informationsaustausch, Tipps im Umgang mit Behörden).
Fast die Hälfte der Randständigen berichtet von Beschimpfungen 
oder Aufforderungen, arbeiten zu gehen. In Zürich und Lausanne ist 
das häufiger der Fall als in den kleineren Städten. Viele der 
befragten Passanten empfinden es als störend, wenn sie den Gruppen 
nicht aus dem Weg gehen können. Der Anblick der Szene löst am 
häufigsten «Betroffenheit» oder «Mitgefühl» aus. «Wut» oder «Angst» 
nannte ein kleiner Teil. In der Deutschschweiz nannten viele 
Passanten «Gleichgültigkeit».
Unterschiedlicher Umgang mit den Randgruppen
Die Situation der Randständigen hat sich in den letzten Jahren 
verschärft, weil sie aufgrund der verstärkten Imagepflege der Städte 
und der Ökonomisierung des öffentlichen Raums - beispielhaft die 
Erweiterung der Bahnhöfe zu Einkaufszonen - an die Peripherie 
gedrängt werden. Die Nutzung des öffentlichen Raums ist stark 
reglementiert. Für die Randständigen bedeutet diese strukturelle 
Diskriminierung, dass sie ihren widerständigen und anarchischen 
Charakter einbüssen. So gehe - neben aller Tragik der einzelnen 
Biographien - die wichtige Funktion verloren, die Randständige für 
die Gesellschaft hätten, sagt Corina Salis Gross: einen anderen 
Lebensentwurf aufzuzeigen. Das sei früher auch deshalb eher möglich 
gewesen, weil sie einen subversiven Anspruch gehabt hätten.
Die 2008 durchgeführte Studie zeigt auch, dass die fünf 
untersuchten Städte verschieden mit den Randgruppen umgehen: Bern, 
die «Imagepflegende», hegt mit Repression und dem Anbieten von 
Alternativen ihr Bild als saubere Stadt, in der Sicherheit und 
Ordnung herrschen. Chur, die «Segregative», ignoriert die 
Randständigen und überlässt sie sich selbst. Zürich, die 
«Pragmatische», hält mit einem liberalen Ansatz die Szenen auf eine 
stadtverträgliche Weise unter Kontrolle. Lausanne, die «Uneinige», 
wird gelähmt von den Grabenkämpfen zwischen der Rechten und der 
Linken. Yverdon, die «Integrative», akzeptiert die Randständigen 
unter der Auflage, dass sie die Gesetze respektieren.
Die Alkoholszene von der übrigen Drogenszene trennen
Die Forschenden empfehlen, die Öffentlichkeit besser über die 
Situation der Randständigen zu informieren. Dass die Sozialarbeit in 
Bern und Zürich diese einerseits unterstützt, andererseits aber 
ordnungspolitisch tätig ist, erschwert die Betreuung. Die Forschenden
empfehlen, die Alkoholszenen von den harte Drogen konsumierenden 
Gruppen zu trennen. Mittel dafür sind etwa Anlaufstellen für den 
geschützten Konsum. Wo dies nicht geschieht - wie in Lausanne, 
Yverdon und Chur -, ist die Gefahr gross, dass junge Alkoholabhängige
in den Gebrauch illegaler Drogen einsteigen.
Der Text dieser Medienmitteilung sowie Berichte des 
Forschungsprojekts «Trinken im öffentlichen Raum: Ein Spannungsfeld 
zwischen Randständigen und Passanten» können heruntergeladen werden 
unter: www.snf.ch > Medien > Medienmitteilungen

Kontakt:

Dr. Corina Salis Gross
Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung Zürich
Konradstrasse 321
CH-8031 Zürich
Tel.: ++41 31 631 35 74
E-Mail: corina.salisgross@isgf.uzh.ch

lic. phil. Florian Labhart
Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme
Av. Louis-Ruchonnet 14
CH-1000 Lausanne
Tel.: ++41 21 321 29 51
E-Mail: flabhart@sfa-ispa.ch

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