Medienmitteilung des Obergerichts zum Tötungsdelikt Sonnenplatz Emmenbrücke
Luzern (ots)
Am 29. Juni 2004 fand vor Obergericht die Verhandlung im nachfolgend näher dargelegten Fall statt, dem Tötungsdelikt auf dem Sonnenplatz in Emmenbrücke vom 15. September 2001. Der Fall stiess einerseits auf grosses öffentliches Interesse, nicht zuletzt auch auf dasjenige der Medien. Anderseits ist festzustellen, dass das Obergericht entscheidend vom vorinstanzlichen Urteil abwich, weshalb ein Bedürfnis bestehen dürfte, dies zu erklären. Es wurde eine Reduktion der Strafe vorgenommen, weil das Obergericht seiner Beurteilung eine neue rechtliche Betrachtung zugrunde legte.
Der Angeklagte, ein damals 55-jähriger Familienvater aus Ex-Jugoslawien, hielt sich in der Nacht vom 14. auf den 15. September 2001 unter anderem in einem Pub in Emmenbrücke auf. Weil er dort in alkoholisiertem Zustand unangenehm aufgefallen war, wurde er schliesslich kurz nach 03.00 Uhr aus dem Lokal gewiesen. Dort kam es zu Diskussionen zwischen dem Angeklagten und Drittpersonen, in deren Verlauf das spätere Opfer X, ein damals 19-jähriger Schweizer, hinzutrat und sich einmischte. In der Folge entfernten sich der Angeklagte und X in Richtung Sonnenplatz. Ihre aggressiv verlaufende verbale Auseinandersetzung artete schliesslich in Tätlichkeiten aus. Zwei gegen 04.15 Uhr zufällig am Tatort vorbeifahrende Polizeibeamte beobachteten, dass zwischen den beiden Kontrahenten Faustschläge ausgeteilt wurden. Hintergründe und Einzelheiten dieser Konfrontation liessen sich nicht mehr klar feststellen. Fest steht, dass in der Folge beide Kontrahenten zu Boden fielen. X wies auf der linken Halsseite eine Stichwunde auf, die stark blutete. An den Folgen dieser Verletzungen verstarb er trotz Rettungsmassnahmen ca. eine Stunde später. Der Angeklagte war aufgrund eines Faustschlages von X auf den Hinterkopf gefallen und blieb seinerseits mit einer Rissquetsch-Wunde an der Oberlippe und einem Schädel-Hirntrauma verletzt auf dem Trottoir liegen. Neben ihm lag ein blutverschmiertes weisses Sackmesser mit einer Klingenlänge von 6,5 cm, das als Tatwaffe identifiziert wurde, und gemäss erster Zugabe, die der Angeklagte allerdings im Verlauf des Untersuchungsverfahrens modifizierte, diesem gehörte.
Mit Urteil vom 12. September 2003 sprach das Kriminalgericht des Kantons Luzern den Angeklagten der vorsätzlichen Tötung nach Art. 111 StGB schuldig, bestrafte ihn mit 8 Jahren Zuchthaus und sprach eine bedingt vollziehbare Landesverweisung von 5 Jahren gegen ihn aus.
Am 29. Juni 2004 fällte das Obergericht des Kantons Luzern folgendes Urteil: Der Angeklagte ist schuldig der vorsätzlichen Tötung nach Art. 111 StGB, begangen gegenüber X in Notwehrexzess nach Art. 33 Abs. 2 Satz 1 StGB. Er wird unter Annahme einer in mittlerem Grad verminderten Zurechnungsfähigkeit mit 5 Jahren Zuchthaus bestraft, abzüglich 1'019 Tage Untersuchungshaft. Er wird für 5 Jahre des Landes verwiesen, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von 2 Jahren.
Zur Begründung des obergerichtlichen Urteils
Die Ermittlungen des Sachverhalts erwiesen sich im vorliegenden Fall, jedenfalls was die Details betraf, als schwierig. Einerseits berief sich der Angeklagte darauf, sich an nichts mehr erinnern zu können. Dies ist mit Blick auf die Erkenntnisse gemäss dem eingeholten psychiatrischen Gutachten sowie auf die neuropsychologische Untersuchung des Angeklagten glaubhaft. Soweit Zeugen, die aus dem Umfeld des X stammten, am Tatort anwesend waren, wollten sie keine sachdienlichen Angaben zum Ablauf der fraglichen Ereignisse machen. Obwohl somit die Geschehnisse, die schliesslich zur Tötung von X führten, im Nachhinein nicht mehr in allen Einzelheiten feststellbar sind, lassen sich diese dennoch in den Grundzügen aufgrund der Aussagen verschiedener Zeugen sowie weiterer Indizien nachvollziehen.
Demnach ist davon auszugehen, dass es in den frühen Morgenstunden des 15. Septembers 2001 in Emmenbrücke zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und X kam, in deren Verlauf sich die Beiden auch zu Tätlichkeiten hinreissen liessen. Die Täterschaft des Angeklagten, die er selbst in Zweifel zieht, ist erwiesen. Wie bereits angedeutet, befanden sich zum massgeblichen Zeitpunkt bloss drei Personen am Tatort. Ein Bekannter des Opfers weilte nach seinen Angaben etwas abseits, weil er sich nicht in den Streit zwischen dem Angeklagten und X einmischen wollte. Es ist nach der Überzeugung des Obergerichts daher davon auszugehen, dass der Angeklagte seinem Opfer die lebensgefährlichen Verletzungen am Hals beibrachte. Dafür sprechen auch verschiedene Indizien. So lag die Tatwaffe nach den Beobachtungen der Polizeibeamten unmittelbar neben dem Angeklagten, der seinerseits verletzt am Boden lag. Weiter gab der Angeklagte der Polizei gegenüber bei den Befragungen mehrfach zu, das fragliche Taschenmesser gehöre ihm. Es hing denn auch an seinem Schlüsselbund. Dass der Angeklagte im späteren Verlauf des Verfahrens bestreitet, dass das Messer ihm gehöre, vermag an dieser klaren Beweislage nichts mehr zu ändern. Seine entsprechenden Äusserungen müssen als Schutzbehauptungen gewertet werden.
Welcher Art die Tätlichkeiten zwischen den beiden Kontrahenten exakt waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Soweit Zeugen dazu Angaben zu machen vermochten, lässt sich immerhin festhalten, dass das Gespräch zwischen den beiden Kontrahenten offenbar gehässig war. Schliesslich muss davon ausgegangen werden, dass X sich dem Angeklagten gegenüber provozierend äusserte. So soll er den Angeklagten irgendwie mit dem Attentat vom 11. September 2003 in Verbindung gebracht haben. Er soll auch gesagt haben, der Angeklagte solle nicht in die Schweiz kommen, um Probleme zu machen, dieser solle dorthin gehen, wo er herkomme. X habe den Angeklagten angeschrien und ihn "Scheiss-Jugoslawen" genannt mit der Bemerkung, er solle doch heimgehen. Weshalb und inwiefern dieses Wortgeplänkel schliesslich in Handgreiflichkeiten ausartete, ist nicht gesichert.
Klarer ist das Beweisergebnis in Bezug auf die Frage, welchen Umfang die Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Kontrahenten hatten. Es kam zu einem einzigen Schlagabtausch. Dass einer der beiden Kontrahenten bereits vor dem Eintreffen der beiden Polizeibeamten am Tatort, d.h. in einem früheren Stadium der Ereignisse, Schläge austeilte, kann aufgrund der Zeugenaussagen ausgeschlossen werden. Ebenso steht fest, dass der Angeklagte unmittelbar nach dem Schlag von X, d.h. als dessen Folge, zu Boden fiel, während X vorerst noch weglief, bis er sich dann zu Boden legte. Er kann in dieser Situation nicht mehr ein weiteres Mal angegriffen haben. Die entsprechende Frage wurde von einem der beiden Polizeibeamten ausdrücklich verneint. Die Frage anderseits, wer von den beiden Beteiligten sich zuerst zur Anwendung von körperlicher Gewalt hinreissen liess, bedarf einer besonderen Klärung. Die Aussagen der beiden Polizeibeamten sind diesbezüglich nicht kongruent. Einer von ihnen (Y) gab ausdrücklich und eindeutig an, X habe zuerst dem Angeklagten einen Schlag versetzt, worauf dieser zurückgeschlagen habe. Im Gegensatz dazu schilderte der andere Beamte (Z) die Abfolge der Handgreiflichkeiten gerade umgekehrt. Er führte aus, der Angeklagte habe X zuerst angegriffen, worauf dieser zurückgeschlagen habe. Anderseits stellte dieser Zeuge Z auch fest, der Angeklagte habe X den Messerstich "vermutlich beim ersten Schlag" beigebracht. Zu beachten gilt es bei der Würdigung der Angaben dieses Zeugen Z, dass er am Steuer des Polizeifahrzeugs sass und wohl die Ereignisse weniger konzentriert und lückenlos als sein Mitfahrer Y beobachten konnte. Es ist daher eher auf die Aussagen des ersten Zeugen Y abzustellen. Dass es der Angeklagte war, der als primärer Aggressor auftrat, lässt sich im Übrigen auch aufgrund der gesamten Umstände nicht vermuten. Einerseits war dieser aufgrund der Kräfteverhältnisse dem X weit unterlegen. Der 19-jährige X war ein 190 cm grosser muskulöser, kräftiger Mann von über 100 Kilogramm Körpergewicht, während der 55-jährige und 165 cm grosse Angeklagte eher schwächlich wirkt. Er wurde auch von sämtlichen Zeugen als ruhig und kaum aggressiv geschildert.
Besonders ins Gewicht fällt in diesem Zusammenhang nunmehr aber Folgendes: Die Körpergrösse des Opfers X führte den zuständigen Gerichtsmediziner zur Feststellung in seinem Obduktionsbericht vom 24. Oktober 2001, der Messerstich gegenüber X sei von einem gross gewachsenen Täter ausgeführt worden, was offensichtlich nicht den Tatsachen entsprach. Anlass dazu gab ihm die Tatsache, dass nach seinen Erkenntnissen der Messerstich in den Hals des Opfers von oben nach unten geführt wurde. Der Gerichtsmediziner konnte den Stichkanal entsprechend definieren. Beim Angeklagten handelt es sich, wovon sich das Obergericht selbst überzeugen konnte, um einen kleingewachsenen, schwächlichen Mann, der seinem Opfer körperlich massiv unterlegen war. Unter diesen Umständen kann der Angeklagte dem X dessen Stichwunde aufgrund der allgemeinen Erfahrung auf zwei mögliche Arten beigebracht haben: Entweder kann er ihn mit seinem Messer erfasst haben, indem sein Opfer auf dem Boden sass oder lag. Diese Version des Ablaufs lässt sich indessen aufgrund der Zeugenaussagen zweifelsfrei ausschliessen. Oder X muss unmittelbar im Zusammenhang mit seinem Angriff auf den Angeklagten, der - wie erwähnt - aufgrund des Beweisergebnisses zuerst erfolgt ist, verletzt worden sein. Damit muss davon ausgegangen werden, dass der Angriff durch X und seine Verletzung durch den Angeklagten quasi in einem Zug erfolgten. Bei dieser Betrachtungsweise erscheint die Tötungshandlung des Angeklagten nicht primär als offensives Tun, sondern vielmehr als Abwehrhandlung. Jedenfalls bestehen zureichende, vernünftige Anhaltspunkte für einen entsprechenden Ablauf des Geschehens. Als weiteres gewichtiges Indiz für die Annahme dieses Sachverhalts lässt sich auch heranziehen, dass gemäss dem Obduktionsbericht vom 24. Oktober 2001 beim Opfer neben der Stichwunde am Hals keine signifikanten Spuren feststellbar waren. Das Vorgehen des Angeklagten ist daher bei dieser Sachlage als Notwehrhandlung im Sinne von Art. 33 StGB zu werten.
Zusammenfassend steht der relevante Sachverhalt somit im Wesentlichen rechtsgenüglich fest. Einzelheiten bleiben aber ungeklärt. Nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" dürfen entsprechende Lücken im Sachverhalt nicht zu Ungunsten des Angeklagten gewertet werden. Es ist davon auszugehen, dass primär X den Angeklagten angriff, worauf dieser im Gegenzug oder zumindest gleichzeitig mit seinem Taschenmesser zustach. Damit präsentiert sich seine Tat als Abwehrreaktion.
Die rechtliche Würdigung des Falles gab vor Obergericht zu keinen besonderen Problemen Anlass. Die Handlung des Angeklagten ist als vorsätzliche Tötung im Sinne von Art. 111 StGB zu qualifizieren. Entgegen der Auffassung des Verteidigers kommt der mildere Tatbestand des Totschlages nach Art. 113 StGB hier nicht zum Tragen. Es wird zwar nicht verkannt, dass dem Handeln des Angeklagten eine verbale Auseinandersetzung mit X vorausging. Weiter muss aufgrund verschiedener Zeugenaussagen davon ausgegangen werden, dass die Diskussion teilweise wenig friedlich war. Insbesondere liess sich das spätere Opfer des Angeklagten offensichtlich auch zu Provokationen, d.h. zu ausländerfeindlichen Äusserungen, hinreissen. Es mag dem Angeklagten zugestanden werden, dass ihn dies stark erzürnte und beleidigte, womit eine heftige Gemütsbewegung im Sinne von Art. 113 StGB zu bejahen wäre. Es gebricht indessen am weiteren Erfordernis der Entschuldbarkeit. Der Angeklagte hat sich in die Diskussion mit X eingelassen, was nicht zwingend gewesen wäre. Er hätte ausreichend Gelegenheit gehabt, sich einer Konfrontation mit diesem zu entziehen, bevor alles eskalierte. Indem er die Diskussion mit ihm aufnahm, trug er eine entscheidende Mitverantwortung am fraglichen Streit. Es kann unter diesen Umständen nicht gesagt werden, dass die emotionale Ausnahmesituation beim Angeklagten aus der Sicht eines objektiv wertenden Betrachters als menschlich begreiflich bezeichnet werden kann. Dies wäre aber nach Lehre und Rechtsprechung Voraussetzung für die Bejahung eines Totschlags nach Art. 113 StGB. Demnach geht die Berufung des Verteidigers auf Art. 113 StGB fehl.
Wie bereits oben angedeutet, ist das Vorgehen des Angeklagten als Notwehrhandlung nach Art. 33 StGB zu werten. Nach dieser Bestimmung ist zur Abwehr berechtigt, wer rechtswidrig angegriffen oder mit einem solchen Angriff bedroht wird, gleichgültig aus welchen Gründen der Angriff erfolgt ist und ob der Angegriffene schuldhaft zum Angriff Anlass gegeben hat. Die Verneinung einer entschuldbaren Gemütsbewegung nach Art. 113 StGB schliesst die Annahme von Notwehr nicht aus. Dass sich der Verteidiger des Angeklagten nicht ausdrücklich darauf beruft bzw. eine Notwehrsituation offensichtlich zumindest implizit verneint, wie die Vorinstanz ausführt, hindert nach dem Grundsatz "iura novit curia" eine Prüfung dieser Frage durch das Obergericht ebenfalls nicht. Der Angeklagte stach in unmittelbarem Zusammenhang mit einem tätlichen Angriff seines körperlich weit überlegenen Opfers zu. An dieser Betrachtungsweise ändert auch die Tatsache nichts, dass der Angeklagte sein Taschenmesser bereits vor dem entscheidenden Schlag von X geöffnet haben, d.h. vor dem Angriff von X zu einer Abwehrhandlung bereit gewesen sein musste. Gewiss liesse sich auch der Standpunkt vertreten, dass X es war, der in einer Notwehrsituation handelte, d.h. als Reaktion auf einen Einsatz des Taschenmessers reagierte und daher auf seinen Kontrahenten einschlug. Dafür finden sich indessen keine Anhaltspunkte in den Akten. Der Sachverhalt darf nach dem bereits zitierten Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" nicht entsprechend konstruiert werden.
Die Annahme einer Notwehrsituation auf der Seite des Angeklagten führt hier nicht dazu, dass das Verhalten des Angeklagten als straflos erscheint. Vielmehr muss festgestellt werden, dass der Angeklagte mit dem Stich seines Messers in den Hals seines Opfers die Grenzen einer den Umständen angemessenen Abwehr offensichtlich überschritten hat. Das massive Verhalten von X mag zwar für den schmächtigen Angeklagten bedrohlich gewirkt haben. Er sah sich dadurch aber in seiner körperlichen Integrität nicht derart stark beeinträchtigt, dass eine Tötung seines Kontrahenten als gerechtfertigt bezeichnet werden kann. Es liegt ein sogenannter Notwehrexzess vor. Bei dieser Sachlage ist nach Art. 33 Abs. 2 StGB die Strafe obligatorisch zu mildern, wobei dem Richter vom Gesetzgeber ein freies Ermessen zugestanden wird. Entsprechend lässt sich die Reduktion der Strafe auf 5 Jahre erklären.
Kontakt:
Dr. iur. Marianne Heer-Hensler
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