Stiftung SOS-Kinderdorf Schweiz
Ruanda - 10 Jahre nach dem Genozid - Detraumatisierungsprogramm von SOS-Kinderdorf
Bern/Kigali (ots)
Zum zehnten Mal jährt sich Anfang April der Beginn des Genozids in Ruanda, der bis zu einer Million Opfer innerhalb von nur dreizehn Wochen gefordert hatte. Der systematisch vorbereitete Massenmord hinterliess geschätzte 300'000 bis 400'000 Waisenkinder. Ruanda wurde zum "Land der Witwen und Waisen". Auch SOS-Kinderdorf war betroffen.
Die Geschichte und Arbeit von SOS-Kinderdorf, seit 1979 in Ruanda tätig, erlebte 1994 eine Zäsur, nach der nichts mehr war wie vorher. Neun Mitarbeiter und neun Kinder und Jugendliche von SOS-Kinderdorf wurden ermordet. Jeder und jede im ruandischen SOS-Kinderdorf-Team hat Angehörige verloren, manche die gesamte Familie. Alle Kinder in den drei SOS-Kinderdörfern (in Gikongoro, Kigali und Byumba), die den Genozid überlebten, tragen die Schrecken der Vergangenheit in sich. Viele der heute als SOS-Kinderdorf-Mütter tätigen Frauen sind Kriegswitwen, die ihre Männer, manche auch ihre Kinder, verloren haben. In der akuten Notlage während und nach dem Ende des Völkermords wurden sie zu "Müttern fremder Kinder".
Familienzusammenführungen und Betreuung von Waisenkindern
Ruanda verfügte auch zwei Jahre nach dem Genozid nur über ein einziges psychiatrisches Krankenhaus. Im ganzen Land gab es nur ein "Centre de Traumatisme" zur Spezialbehandlung kriegstraumatisierter Menschen. Während des drei Monate währenden Gemetzels mussten die Bewohner der SOS-Kinderdörfer in Kigali und Gikongoro evakuiert werden. Später wurden die Dörfer erweitert, um mehr Kinder betreuen zu können. Ein Nothilfedorf wurde in Ngarama errichtet, wo verloren gegangene, verwaiste und völlig entkräftete Kinder aufgenommen wurden. Viele wurden von SOS-Kinderdorf-Mitarbeitern aus den überfüllten Flüchtlingslagern und Waisenhäusern geholt. Die Kinder befanden sich in einem erbärmlichen Zustand, waren unterernährt, krank und verletzt, für einige kam jede Hilfe zu spät. Rund 800 Kinder wurden zusätzlich betreut. Das Dorf in Ngarama, später durch das SOS-Kinderdorf in Byumba abgelöst, fungierte in dieser Region in Zusammenarbeit mit Unicef und Save the Children als Drehscheibe für die Familienzusammenführung.
Innere und äussere Narben
Die seelischen, körperlichen und sozialen Schädigungen, die Kriegserlebnisse in Kindern verursachen, erreichten in Ruanda ein Übermass an Traumatisierung. Allein die Zahl der betroffenen Kinder und die Art ihrer Erlebnisse waren überwältigend.
Viele Kinder hatten mit eigenen Augen die Ermordung ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen müssen und waren wochenlang schutzlos umhergeirrt. Die Folgen solcher Erlebnisse für Kinder, die in besonderem Mass von ihrer Umgebung und Familie abhängig sind, sind verheerend und kommen manchmal einer Auslöschung ihres Ichs gleich. Je nach Alter reagieren Kinder mit unterschiedlicher Symptomatik, die von Experten unter dem Begriff der "posttraumatischen Belastungsstörung" subsumiert wird. Wachstumsstopp, Nahrungsverweigerung, Schlafstörungen, Rückzug von sozialen Kontakten, Gefühlsleere, Verlust der kommunikativen Fähigkeiten, Phobien und Panikstörungen, zwanghaftes Durchspielen des Erlebten, Aggression und Regression, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Zukunftsangst und suizidale Tendenzen können bei kriegstraumatisierten Kindern und Jugendlichen beobachtet werden.
SOS-Kinderdorf startete unmittelbar nach Beendigung des Genozids ein "Detraumatisierungsprogramm". Psycholog(inn)en, Sozialarbeiter(innen), Familienhelferinnen, Lehrer(innen) und Kindergärtnerinnen versuchten und versuchen gemeinsam mit den SOS-Kinderdorf-Müttern, den Heilungs- und Verarbeitungsprozess der Kinder zu begleiten und zu stützen. Beziehung ist dabei die beste Therapie.
Wie sehr die Vergangenheit bis zum heutigen Tag lebendig ist, erfährt man in fast jedem Gespräch. Auch Marie Théogène Umuteteli, Witwe und heute SOS-Kinderdorf-Mutter in Kigali, erzählt vom schrecklichen Erbe des Jahres 1994. Die von ihr betreuten Kinder sind zum grössten Teil Waisen des Massenmords. "Später begann ich, an einem Lehrgang zum Thema 'Traumabewältigung' teilzunehmen. Das ist interessant, denn man entdeckt, dass man selbst ein solches Trauma hat. Man zeigt es nur nicht, weil man da ist, um die Kinder zu schützen. Dieser Kurs zeigt uns, wie wir mit den Kindern umgehen sollen. Mit uns selbst haben wir noch gar nicht angefangen, weil wir erst das Thema des Kindertraumas abarbeiten müssen."
Friedenserziehung und konstruktive Methoden zur Konfliktlösung sind ebenfalls wichtige Bestandteile der pädagogischen Arbeit innerhalb der SOS-Kinderdörfer und den von SOS-Kinderdorf geführten Schulen und Kindergärten. In den SOS-Kinderdorf-Einrichtungen gibt es, wie auch vor dem Genozid, keine Trennung von Tutsi und Hutu. Keine Selbstverständlichkeit nach dem jahrelang gepredigten Rassismus und dem über Jahrzehnte aufgerissenen Graben zwischen den zwei Volksgruppen. "Ein Wunder, dass die Menschen in Ruanda friedlich und auf engem Raum miteinander leben können." Mit dieser Vergangenheit im Rücken versteht Alfred Munyentwari seine Aufgabe als nationaler Leiter von SOS-Kinderdorf in der tagtäglichen Schaffung einer friedlichen Koexistenz, denn "das ist der einzige Weg in die Zukunft. Wenn man sich nur verantwortlich fühlt für seine Volksgruppe, wo soll das hinführen?"
SOS-Kinderdorf ist ein privates, politisch und konfessionell ungebundenes Kinderhilfswerk. Seit 1949 hat diese Organisation das Ziel, verlassenen und in Not geratenen Kindern - ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität und Religion - eine Familie, ein ständiges Zuhause und eine solide Vorbereitung auf ein Leben in Selbständigkeit zu bieten. SOS-Kinderdorf ist in 131 Ländern tätig. In den weltweit 442 Kinderdörfern und 337 SOS-Jugendwohneinrichtungen werden über 50'000 Kinder und Jugendliche permanent betreut. Sie können im Erwachsenenalter ihr Wissen in ihrer Heimat zum Nutzen aller weitergeben. Somit wird eine nachhaltige Entwicklungshilfe gewährt. SOS-Kinderdorf beschäftigt fast ausschliesslich lokale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Der Verein "Schweizer Freunde der SOS-Kinderdörfer", einer der elf europäischen Fördervereine der Organisation SOS-Kinderdorf, feiert in diesem Jahr sein 40-jähriges Bestehen.
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