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European Newspaper Congress 2010: "Ist journalistische Arbeit überhaupt noch möglich?"

Wien (ots)

Wien - Führende Journalisten erkennen immer
deutlicher, dass der Journalismusberuf als solcher nicht nur unter 
Druck gerät, sondern regelrecht bedroht ist. Ist journalistische 
Arbeit im klassischen Sinn - nämlich als unerlässliche Dienstleistung
für die aufgeklärte, demokratische Gesellschaft überhaupt noch 
möglich? Eine hochrangige Diskussionsrunde am zweiten Tag des 
European Newspaper Congress in Wien endete äußerst skeptisch, auch 
mit den Worten des Diskussionsleiters Michael Fleischhacker, des 
Chefredakteurs der österreichischen Tageszeitung "Die Presse": "Wir 
scheinen uns einig zu sein, dass die Hauptbedrohung für den 
Journalismus ökonomischer Natur ist. Der unentbehrliche Freiraum für 
den qualitativ hochwertigen Journalismus wird unablässig enger." Und 
zuvor schon: "Wir haben den Verdacht, dass die Verleger die 
Redaktionen mehr auspressen, als es notwendig wäre."<p> Der 
Journalist und Buchautor Tom Schimmeck bezeichnete die 
Unternehmensberater als die natürlichen Feinde der Journalisten - zur
hörbaren Verärgerung Helmut Dumfahrts, des Unternehmenssprechers der 
Tabakindustrie (JTI-Österreich). Recycling von halbfertigen 
PR-Geschichten sei zumindest in Deutschland die Hauptbeschäftigung 
der meisten Redakteure, behauptete Schimmeck. Ökonomischer Druck auf 
die Journalisten sei verzahnt mit dem Verfall der Öffentlichkeit. 
"Die Publizistik ist nicht mehr in der Lage, mit Politik umzugehen 
und die richtigen Fragen zu stellen."<p> Auch Thomas Leif, 
SWR-Chefreporter und Vorsitzender von Netzwerk Recherche, beklagte 
den "Mangel an Original, den Verlust an Handschriften" im 
publizierten Bereich. Journalismus entwickle sich zunehmend zu einer 
Technik und weg vom Beruf. Viele Journalisten könnten genauso gut 
Kebab verkaufen. "Sie sind die Übersetzer von Marketingbotschaften." 
<p> Nach so derben Seitenhieben gegen die PR hatte es Dumfahrt nicht 
leicht gegenzusteuern. Das Spannungsfeld zwischen der Industrie, 
namentlich der politisch komplett geregelten Tabakindustrie, und den 
Medien sei enorm. Es sei schwer, der Öffentlichkeit begreifbar zu 
machen, dass schon der Zigarettenschmuggel ein organisiertes 
Verbrechen sei. Journalisten könnten sich nie so in ein Thema 
einarbeiten wie Unternehmensvertreter, also seien sie auf deren 
Dienstleistungen angewiesen. "Wir wollen unsere Argumente verkaufen, 
Sie Ihre Geschichten. Wir sitzen im selben Boot", sagte Dumfahrt, 
ohne damit freilich Anklang bei den Mitdiskutanten zu finden. <p> 
Charles E. Ritterband, seit 26 Jahren Mitglied der Redaktion der 
"Neuen Zürcher Zeitung" ("NZZ") und langjähriger Korrespondent in 
Wien, rollte das Problem Unabhängigkeit am Beispiel der aktuellen 
Veränderungen in seiner Zeitung auf. Das Verhältnis zwischen der 
Zeitung und der Politik sei noch in Ordnung. "Die Politiker müssen 
vor diesem 230-jährigen Phänomen ,NZZ´ in die Knie gehen. Bei der 
Wirtschaft ist das auch so. Aber es gibt auch Verflechtungen mit der 
Politik und der Wirtschaft. Sie ist nicht eine völlig unabhängige 
Zeitung." Das betrachtet Ritterband als nicht so bedenklich, zumal 
jeder der 1800 "NZZ"-Aktionäre maximal ein Prozent Anteil besitzen 
dürfe. Spürbar negativ sei die wirtschaftliche Entwicklung des 
Flaggschiffs schweizerischer Medien: Im Vorjahr machte die Zeitung 
43,5 Millionen Franken Verlust, die Aktionäre wollen jedoch Profit 
sehen. Das habe zu schmerzlichen Sparprogrammen geführt. Die 
Auslandsausgabe sei sehr dünn geworden und nicht mehr das, was sie 
einmal war. Drucktechnisch sei sie an die "FAZ" angeschlossen, 
wodurch der Redaktionsschluss auf 16 Uhr MEZ vorverlegt worden sei, 
auf Kosten der Aktualität. "Die ,NZZ´ hat unter diesen Sparmaßnahmen 
sehr gelitten."<p> Insgesamt seien aber die Schweizer Medien von der 
Politik viel weniger abhängig als die österreichischen, ist 
Ritterband überzeugt. Ihm mangle es hierzulande an Vielfalt, und was 
ihn sehr erschrecke, seien die Inserate von Politikern und 
Ministerien in den Zeitungen. "Da werden der Journalismus und das 
Wohlwollen direkt finanziert. Ich halte diese Abhängigkeit für sehr 
bedenklich."<p> Große Sorgen um die Unabhängigkeit der Medien sind 
auch von juristischer Seite zu vernehmen. Der Medienrechtler  . Peter
Zöchbauer wies auf drei aktuelle Gefahrenherde für den freien 
Journalismus hin: 1. Ein falsch verstandener Begriff des Privat- und 
Familienlebens. Man versuche in Europa, diese Privatheit sehr 
umfassend zu schützen und das Gesetz entsprechend auszulegen. Das 
führe zur Einschränkung der Pressefreiheit. 2. Medienrecht sei in der
EU nicht harmonisiert. Österreich befinde sich auf der Seite des 
strengen Medienrechts, weshalb Medien oftmals verurteilt würden. 
Medien, deren Produkte in mehreren Ländern erscheinen, müssten die 
unterschiedlichen Rechtsordnungen berücksichtigen, was aber technisch
fast nicht möglich sei. 3. Unter dem Motto Opferschutz werde die 
Berichterstattung über Opferfälle in Österreich weitgehend 
unterbunden. Es gäbe Pläne, die Geldstrafen auf bis zu 100.000 Euro 
zu erhöhen.<p> Noch einmal kam die Frage auf, wer Schuld an der 
Entwicklung trage. Thomas Leif: "Es fehlt das historische 
Eingeständnis von fundamentalen Managementfehlern der Unternehmer. In
den Journalismus wird nicht ordentlich investiert, was bloßen 
Teaser-Journalismus zur Folge hat." Und wenn es heiße "Wir sitzen in 
einem Boot" - "Ja, weil die Journalisten es selber glauben. Die 
Konsequenz ist Politikverachtung. In welchem Zustand sind die 
westeuropäischen Demokratien angelangt? Die Leser erwarten gar keine 
unabhängige Kritik mehr."<p> Ritterband sekundierte: Zur Demokratie 
gehörten die Medien, die die Sache kritisch verarbeiten und nicht nur
Häppchenjournalismus bieten. Das Internet habe verheerende 
Auswirkungen in Richtung Niveauschwund. Denn es werde das Lustige 
angeklickt, das Skandälchen - und nicht, was für die Demokratie 
entscheidend sei.<p> Mathilde Schwabeneder, ORF-Korrespondentin in 
Rom, analysierte die gesellschaftsverändernde Wirkung von Silvio 
Berlusconis Medienregime. Der überdurchschnittliche Fernsehkonsum der
Italiener mache es möglich, dass das Bild der Frau sich veränderte - 
zum Schlechteren. Darüber gebe es einschlägige Untersuchungen. Das 
Starlet, die "Bellina", sei fast schon selbstverständliche Beigabe 
aller Fernsehsendungen, und die meisten Mädchen wollten tatsächlich 
Starlets werden. "Die Journalisten haben eine große Verantwortung. 
Wie wird der Körper einer Frau dargestellt? Auch in Tageszeitungen 
gibt es eine diskriminierende Haltung gegenüber Frauen. Das wird kaum
mehr wahrgenommen."<p> Was können Journalisten - laut Fleischhacker 
"eingeklemmt zwischen Eigentümerversagen und Publikumsversagen" - 
gegen all diese Tendenzen tun? Ganz klar wurde das nicht, die 
Antworten  liefen auf eine Art wehrhaften Journalismus hinaus, was ja
auch schon ein Fortschritt wäre. Leif konstatierte richtiger Weise, 
dass die Medienkritik marginalisiert sei und der innere Betrieb 
journalistisch kaum beachtet werde. Schimmeck: "Wir dürfen uns nicht 
bereit finden, diese Dinge zu tun. Wir müssen auch gute Arbeit 
leisten", sagte er. Und knüpfte eine Hoffnung an die 
öffentlich-rechtlichen Möglichkeiten in Rundfunk und Fernsehen.<p> 
Der European Newspaper Congress, der größte europäische 
Zeitungskongress, wird veranstaltet vom Medienfachverlag Oberauer mit
den Zeitschriften "medium magazin", "Der Österreichische Journalist",
"Schweizer Journalist" und "Wirtschaftsjournalist" und vom deutschen 
Zeitungsdesigner Norbert Küpper. Sponsoren sind die Stadt Wien, 
JTI/Austria Tabak und Vienna Insurance. Medienpartner ist die 
Tageszeitung "Die Presse".

Pressekontakt:

Johann Oberauer 0043/(0)664/2216643

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