Eine Frage der Bewertung, Kommentar zur Verschärfung der EU-Regeln für Ratingagenturen, von Stephan Lorz.
Frankfurt (ots)
Dass im Laufe der Euro-Krise so manche Bonitätsbewertung von Ratingagenturen die Politik verärgert hat - etwa wegen ihres krisenverschärfenden Veröffentlichungszeitpunkts - ist nachvollziehbar. Oft wurden Ratingveränderungen von Staaten unmittelbar vor entscheidenden EU-Gipfeln bekannt gegeben, obwohl sich an der Lage des betroffenen Landes zuvor nichts geändert hatte. Das wirft Fragen nach den Absichten auf. Auch leisteten sich die Agenturen so manche Fehlleistung etwa durch zu früh bekannt gewordene Bonitätsänderungen.
Dass die EU-Kommission deshalb wegen des institutionellen und marktbewegenden Charakters der Agenturen nun auf mehr Transparenz dringt, sie bei grober Fahrlässigkeit sogar haftbar machen und den Veröffentlichungszeitpunkt vorgeben möchte, ist deshalb durchaus diskussionswürdig. Auch andere Unternehmen müssen sich ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Und im Fall der Länderratings geht es schließlich oft um das Wohl und Wehe ganzer Volkswirtschaften.
Allerdings darf die Haftung nicht so weit gehen, dass die Agenturen künftig wegen einer - aus Sicht des Betroffenen - zu schlechten Bonitätsnote zur Rechenschaft gezogen werden können. Das ist zwar dem Verordnungsentwurf nach ohnehin nicht geplant. Wie weit Gerichte bei der Interpretation von Gesetzestexten aber gehen, hat zuletzt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gezeigt: Das strikte "Beistandsverbot" (No-Bail-out-Klausel) des EU-Vertrags bei finanziellen Schieflagen von Euro-Staaten wurde zu einer "Beistandsmöglichkeit" umdeklariert. Da der Unmut der Politik über die zu schlechte Bonitätsbewertung zu den neuen Regulierungsvorschlägen geführt hat, ist nun die Gefahr groß, dass auch der aktuelle Regulierungswortlaut "uminterpretiert" wird.
Bei aller Kritik am Gebaren der Ratingagenturen sieht der Gesetzgeber ja inzwischen ein, dass er es selbst war, der durch die Integration der Ratings in Regulierungsbestimmungen den Agenturen erst zur jetzt beklagten Marktbedeutung verholfen hat. Von Natur aus handelt es sich bei Ratings nämlich lediglich um Meinungsäußerungen. Und inhaltlich haben sich die Urteile im Bereich der jetzt kritisierten Länderratings meist sogar als ökonomisch fundiert erwiesen. Nicht immer natürlich, aber die Agenturen sind ja auch keine Versicherung gegen Zahlungsausfall, sondern bewerten nur - wie es dieser Kommentar auch tut.
(Börsen-Zeitung, 29.11.2012)
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