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Bundeskanzlei BK

Kurzreferat von Bundespräsident Moritz Leuenberger anlässlich der Präsentation der Redensammlung «tra sogni e strategie» an der Universität von Lugano.

Lugano (ots)

Es gilt das gesprochene Wort!
Anlass der heutigen Veranstaltung ist eigentlich
die Buchvernissage von «tra sogni e strategie». An einer solchen
Vernissage pflegt der Autor in der Regel aus seinem Buch vorzulesen.
Doch erstens kann eine bereits gehaltene und an ein bestimmtes
Publikum gerichtete Rede kaum nochmals vorgelesen werden, und
zweitens fällt der heutige Termin, den wir seit vielen Monaten
vereinbart haben, auf das Ende meines Präsidialjahres und dieses
wiederum ist geprägt von Unfällen, Niedergängen und Katastrophen, wie
wir sie in dieser Häufung selten erleben. Der Verleger Armando Dadò
hat sich wohl zu recht gesagt, in einer solchen Zeit verbiete es
sich, einfach nur über Träume zu sprechen und er hat Sie deshalb mit
dem Thema «Un anno di presidenza in una Svizzera in difficoltà»
hierher gelockt (ich meinerseits habe schon vor dem Titel zugesagt
...). Wir wollen über die Situation unseres Landes durchaus sprechen.
Ich schlage aber vor, dass wir dies miteinander in der
anschliessenden Diskussion tun.
Es kommt dazu, dass der Unfall im Gotthardtunnel hier im Kanton
Tessin ganz besondere Ängste weckt, nämlich solche der Isolation von
der nördlichen Schweiz. Ein Präsident und Verkehrsminister, der heute
nach Lugano kommt und nicht über diese Problematik spricht, sollte,
statt über Träume zu parlieren, wohl besser gleich seine Memoiren
abgeben.
Ich weiss, dass in der italienisch sprechenden Schweiz die Meinung
herrscht, wir Bundesräte liessen uns selten hier sehen (ausser beim
Filmfestival in Locarno). Wenn ich aber meine Agenden der vergangenen
Jahre überblicke, stelle ich fest, dass ich im Tessin ebenso häufig
auftrete wie in allen anderen Gegenden der Schweiz. Besonders die
Sondersession dieses Jahres hat die Quote für 2001
überdurchschnittlich angehoben.
Dennoch beobachte ich einen Unterschied: Reden zu Kultur und
Politik, zur Kunst der richtigen Tempi, Ausführungen zu inhaltlichen
Schranken der Freiheit oder das Lob der Gleichheit, alles Reden die
mir wichtig sind, halte ich vor deutsch oder französisch sprechendem
Publikum. (Das Lob der Gleichheit stimmte ich zwar im Kongresshaus
hier in Lugano an, aber am Bankiertag, das heisst vor einem
mehrheitlich deutschsprachigen Publikum - so hoffe ich wenigstens;
aber vielleicht verstanden sie nur englisch.)
Die Reden auf italienisch hingegen befassen sich meist mit
Strassen, Eisenbahnen, Tunnel, Lärm und Kehrichtverbrennungsanlagen.
Die einzige etwas grundsätzlichere Rede auf italienisch habe ich in
Udine anlässlich des von der dortigen Universität erhaltenen Dr. h.c.
gehalten.
Das liegt gewiss auch daran, dass meine Arbeit als Vorsteher des
UVEK, als Strassen-, Eisenbahn-, Energie-, Umwelt-, Post- und
Kommunikationsminister hier im Tessin sehr viel gefragter ist als
meine Gedanken zu Gott und der Welt, denn das Tessin braucht zunächst
einmal funktionierende Infrastrukturen, damit es überhaupt den Zugang
zur Welt und zu Gott hat.
Ich kann das gut verstehen und weiss ebenfalls, dass alle
Schweizerinnen und Schweizer im Grunde genommen so denken. Trotzdem
ist mir eine Kritik während meinem Präsidialjahr sehr unter die Haut
gegangen:
Als ich bei einem internationalen Treffen mit Kofi Annan, Jacques
Chirac, Laurent Kabila und Vojislav Kostunica in Genf eine Rede über
die Menschenrechte hielt, war die Reaktion in der deutschsprachigen
Schweiz: «Er flüchtet sich in präsidiale Ansprachen über
Menschenrechte, statt sich um die wahren Probleme der Schweizer zu
kümmern, nämlich um die Staus auf der A2.»
Eigentlich ist dies ja eine Kritik an unserem Präsidialsystem, in
welchem der Präsident gleichzeitig ein eigenes Departement mit all
den praktischen Schwierigkeiten führen muss, also sowohl Visionen
entwickeln als auch den täglichen Kleinkram erledigen sollte. Aber
gerade dieses Spannungsfeld zwischen Fernsicht und Nahkampf, zwischen
Träumen und Strategien versuchte ich in meinen Präsidialreden zum
Ausdruck zu bringen.
Diese Reden nun in italienischer Sprache zu veröffentlichen,
betrachte ich als Chance zu einem Dialog. Reden zu halten ist ja eine
Möglichkeit, den Aufgaben unserer Demokratie nachzukommen und die
politische Diskussion zu pflegen. Ich habe in meiner politischen
Arbeit gelernt, dass es nie einfache und eindeutige Antworten gibt,
dass diese immer nur gefunden werden, wenn zu jeder Behauptung die
Gegenfrage gestellt wird, wenn jede These in Zweifel gezogen wird.
Gewiss ist es für mich schwieriger, diesen Dialog - und es soll
ein Dialog sein, kein Monolog - in italienischer Sprache zu führen.
Ich habe im Vorwort zur deutschen Ausgabe geschrieben: Meine Reden
sind so entstanden, indem andere mit mir redeten, jedoch nicht nur
vor, sondern durchaus auch während des Auftrittes: Manch
eingeflochtene Anekdote, beschwichtigende Ergänzung oder
zurückweisende Klarstellung ist die Reaktion auf eine lächelnde
Aufmunterung, auf ein stirnrunzelndes Kopfschütteln oder einen
Zwischenruf aus dem Publikum. Der Vortrag einer Rede lebt von der
aktiven Präsenz des Publikums, und er bleibt leblos, wenn dieses
apathisch verharrt.»
Auf italienisch gelingt mir dies allerdings nicht. Denn ich habe
diese Sprache in einem dreiwöchigen Schnellkurs erlernt und ich bin
daher auf die Toleranz des Publikums angewiesen. Diese allerdings
habe ich immer und immer wieder erleben dürfen. Es waren Erlebnisse
wie dasjenige in Bissone, wo ich wie ein Landesfürst gefeiert wurde,
obwohl ich doch eigentlich als Verkehrs- und Umweltminister hätte
gelyncht oder mindestens zur Strafe an die Autobahnbrücke angebunden
werden müssen, wie weiland Prometheus an den Felsen. Oder noch eine
schlimmere Strafe? Immerhin hat Prometheus den Menschen das Feuer
gebracht, also vermutlich den ersten Service public geleistet.
Es ist richtig: Meine aller erste Aufgabe ist es, den Service
public zu garantieren. Aber einen Gedanken, den ich im Buch immer
wieder betone, möchte ich wiederholen: Der wichtigste Service public,
die wichtigste Infrastruktur ist die Kultur. Das gilt ganz besonders
in unserem Land mit seinen vier Sprachen und vielen Kulturen, in
unserer so genannten Willensnation. Vielleicht sind gerade deshalb
meine gelegentlichen Gedankenspielereien und Tagträume, die ich mir
erlaube, durchaus gefragt, wie die fünfte Auflage meines Büchleins
«Träume und Traktanden» zeigt. (Ich möchte aber betonen, dass die
italienische Ausgabe nicht etwa einfach die Übersetzung der deutschen
ist. Nur einige wenige Reden wurden übernommen. Die meisten hier
veröffentlichten stammen aus diesem Präsidialjahr und sind auf
deutsch nicht veröffentlicht.)
Ich möchte daher in erster Linie der Übersetzungsequipe in unserem
Departement danken, dass sie mich dazu anregten, es zu wagen, ein
Büchlein in italienischer Sprach herauszugeben. Ich danke auch dem
Verleger Dadò, der den Namen seines Verlages für dieses Experiment
hergibt; ich hoffe sehr, er erlebe mit dieser Investition kein
Grounding. Lassen Sie mich vor allem auch Giovanni Orelli für die
Überarbeitung danken. Wir wissen alle, es gibt Ausdrücke und
Gedankengänge, die nicht einfach mechanisch übersetzt werden können.
Ich denke etwa an die Schwierigkeit, am 1. August ein adäquates Wort
für «Heimat» zu finden. Seine Überarbeitung meiner Texte war ein
schwieriger Balanceakt auf dem Seil zwischen den beiden
Sprachkulturen, und das ist schwieriger als einen Tunnel oder einen
Pass zu bauen.
Mit diesem Büchlein möchten wir alle, die daran gearbeitet haben,
das kulturelle und sprachliche Gotthardmassiv, welches zwischen
unseren beiden Kulturen steht, überspringen. Die Leser, die sich an
die Lektüre wagen, vollziehen diesen Sprung ebenfalls.
Vielleicht begegnen wir uns tatsächlich, hoffentlich sanft, und
nicht in Form eines Clash der Kulturen.

Kontakt:

Schweizerische Bundeskanzlei, Information.

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